Archive für Kategorie: Kritische Theorie

von Bengt E. Bethmann

 

Einleitendes

Inzwischen fällt es auch ‚Normalverdienern’ in Deutschland schwer, Wohnraum zu mieten. Besonders die hippen, urbanen Zentren der Republik verzeichnen enorme Mietpreisanstiege. In drei beliebten Berliner Stadtteilen haben sich die Mieten in zehn Jahren sogar verdoppelt.[1] Laut Statistik muss ein Durchschnittsverdienender heute schon rund ein Drittel seines gesamten Einkommens für die Miete seines Wohnraums ausgeben; Tendenz steigend. Selbst Interessenvertreter des Kapitals schlagen inzwischen Alarm, weil sich die steigenden Mieten negativ auf die Entwicklung der Wirtschaft auswirken. Die Effektivität der Arbeiter für Staat und Kapital, die für den ‚Produktionsstandort Deutschland’ arbeiten, leide demnach aufgrund der momentan angespannten Lage am Immobilienmarkt. Der ‚Jobboom’ sei gefährdet, und Jobs, die nur ein kleines Gehalt versprechen, seien, weil man mit ihnen keine Miete mehr covern kann, am Verschwinden. Frits Scholte, Geschäftsführer des Personaldienstleisters Manpower Group Deutschland, sagt: „Die Personalnachfrage stagniert oder ist sogar rückläufig, aus diesem Grund.“[2]

Die Politik versucht, auf die Entwicklung reagieren. Die SPD wirbt inzwischen mit dem Slogan: „Wohnen bezahlbar (…) machen.“[3] Das in Zukunft zu realisieren dürfte schwierig werden. In einer vielschichtig verketteten kapitalistischen Volkswirtschaft liegt das Problem tief in ihrer Struktur. Man muss dafür mehr als nur an einigen Stellschrauben drehen. Mieten und Immobilienpreise können in einer sich schnell verändernden Welt nur mit Negativfolgen für andere Bereiche eingefroren werden. Momentan boomt das Geschäft mit dem Wohnraum aber vor allem deshalb, weil andere Branchen, in denen man Geld anlegen kann, gewinnmäßig stagnieren. Um Anleger anzuziehen bieten Banken gute Gewinnanlageoptionen in der Immobilienbranche über Niedrigzinsen an. Die vielen Privatanleger erhoffen sich mit dem Immobilienkauf langfristig abzusichern und ihrer drohenden Altersarmut vorzubeugen. Diese Einstellung zur Privatfürsorge durch Eigentum wird staatlich gefördert. Die ‚Privatfürsorgler’ sollen das inzwischen gewaltige Loch in der bundesdeutschen Rentenkasse helfen abzufedern.[4]

Selbstverständlich werden aber nicht nur Privatleute durch die attraktiven Niedrigzinsen in den Immobilienmarkt gezogen. Der Boom hat auch viele große Wohnungsgesellschaften, wie beispielsweise die Deutsche Wohnen oder Vonovia, entstehen lassen. Das Geschäft mit der Not der Wohnungssuchenden zieht börsennotierte Unternehmen an, die durch die Niedrigzinsen mit dem Immobilienkauf und der anschließenden (Massen-)Vermietung des Eigentums Geld verdienen möchten.

Doch trotzdem kann man nicht alleine auf die großen und kleinen Anleger in Wohnraum schauen und mit dem Finger auf sie zeigen, wenn man die Miet- und Preiserhöhungen von Wohnraum kritisiert. Zum einen sind sie nicht für die gesellschaftlichen Entwicklungen verantwortlich, die der Immobilienbranche zum Boom verholfen haben. Zum anderen spielt der Staat eine nicht unerhebliche Rolle bei der Steigerung der Werte der Immobilien. Er ermutigt die Bürger nicht nur zum Kauf, um sich damit als ‚Privatfürsorgler’ Eigentum an Wohnraum für die Rente zuzulegen. Der Staat verdient auch immer, und nicht gerade wenig, über die erhobene und die nach Konjunkturlage steigende, bzw. die Immobilien immer wieder neu bewertende, Grundsteuer kräftig mit. Selbst die anfallenden Notarkosten beim Übertrag des Eigentumstitels lassen sich in die staatlich vorgeschriebenen Ausgaben auf dem Immobilienmarkt einberechnen, weil der Staat die notarielle Beglaubigung bei der Eigentumsüberschrift erst verlangt. Staat, Kapital und vermögende Privatleute nutzen insofern gemeinsam den momentanen Bau-, Verkaufs- und Mietenboom durch die ökonomische Lage auf dem Weltmarkt aus.

Obwohl es die momentanen Konstellationen des kapitalistischen Marktes sind, die die problematischen Folgen für die Mieter mit sich bringen, liegt die Problematik woanders. Die hohen Mieten und Kaufpreise sind ein Phänomen in der bürgerlichen Gesellschaft, die das Privateigentum zur Basis ihrer Ökonomie erklärt hat. Das rücksichtslose Geschäft mit dem Wohnraum ist insofern kein neues Phänomen, das sich erst heute durch die schwindenden Anlageoptionen als ein umfassendes gesellschaftliches Problem zeigt. Seit der Konstitution der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft existiert das allgemeine, verfassungsmäßig verbriefte Recht auf (Privat-)Eigentum an Wohn- und Gewerbeimmobilien. Das Eigentum an einer Immobilie macht diese zur Exklusivität für ihre Eigentümer, die das ausschließende Recht zu ihren Gunsten anwenden können. Der Nationalstaat garantiert den Grundbesitzern beispielsweise, abgesichert durchs installierte demokratische Rechtssystem, einen exklusiven Mietzins auf etwas, das bis auf den notariellen Eintrag ins Grundbuch keinerlei Aufwand entschädigt. Mit der Exklusivität des Eigentums wird das Immobilieneigentum in der kapitalistischen Gesellschaft zur Ware.

Grund und Boden sind allerdings ziemlich ungewöhnliche immobile kapitalistische Waren, die sich im Sammelsurium der Warenwelt von den mobilen kapitalistischen Waren und Werten wesentlich abgrenzen lassen. Der Wert der ganz gewöhnlichen, mobilen Waren wird bei Marx im Kapital durch ein Drittes (tertium comparationis) bestimmt, das beide Waren einander vergleichen lässt. Nur, weil der Wert der Ware in diesem Dritten sein fundamentum in re hat, lassen sich die gesellschaftlich gebräuchlichen Dinge miteinander zu ihren Werten austauschen, ohne dass Willkür oder gar Betrug dabei eine Rolle spielen. Das vergleichbare Dritte der Wertbestimmung ist die gesellschaftlich notwendige menschliche Arbeitszeit, die in die nützlichen Dinge zu ihrer Herstellung jeweils durchschnittlich eingeflossen ist. Es gilt also ein quantitativer allgemeiner Standard bei der Herstellung der Waren, ein gesellschaftlicher Durchschnitt, der immer Modell für den Wert der gewöhnlichen Waren steht. In der Wertbestimmung der Waren steckt allerdings ein gesellschaftliches Herrschaftsmoment, das den gesellschaftlichen Reichtum trotz des Äquivalententauschs generiert. So enthält der quantitative Wert, zu dem die Dinge als Waren auf dem kapitalistischen Markt getauscht werden, immer schon einen ihm immanenten Mehrwert. Dieser Mehrwert repräsentiert den Anteil der Arbeitszeit des Lohnarbeiters, die über seine notwendige Arbeitszeit zu seiner eigenen Reproduktion hinausgeht. Es handelt sich bei der Mehrarbeit an den Wertprodukten nicht (nur) um Überstunden des Arbeiters, also nicht (nur) um Arbeitszeit, die über die vertraglich vereinbarten Stunden hinaus geht, sondern um eine schon den vertraglichen Rahmenbedingungen immer immanente Mehrarbeit. Diese Mehrarbeit ist überhaupt erst für den Reichtum der kapitalistischen Gesellschaften verantwortlich (und ist nicht mit dem Reichtum Einzelner zu verwechseln!). Der hinzugefügte Mehrwert ist deshalb auch nicht Resultat des Fleißes der Arbeiter, sondern er ist durch die vertraglich festgelegten Arbeitszeiten implizit einkalkuliert. Die Gewinnung des Mehrwerts ist insofern auch kein juristisch zu ahndender Betrug der Kapitalisten am ‚Arbeitnehmer’. Die Mehrarbeit ist und bleibt ein ganz legaler und gegenständlicher Zwang, der mit den Arbeitsverträgen durchgesetzt wird, denn: „Kein Kapitalist, der bei Sinnen ist, würde Arbeitskräfte bezahlen, wenn er nicht von ihrer Anwendung in der Produktion Gewinn sich verspräche, denn ohne solchen Gewinn würden sie sein Kapital aufzehren und ihn in den Konkurs treiben.“[5] So werden Eigentum Ware Arbeitskraft gegen Eigentum Lohn als Tauschäquivalent des Eigentümers an Produktionsmitteln getauscht – und der Lohnarbeiter zur Produktion von Mehrwert um seiner Reproduktion willen genötigt.

Doch was macht den Unterschied in der Wertbestimmung von immobilen und mobilen Waren aus? Das Marxsche Modell der Preis- bzw. Wertbestimmung gilt zu weiten Teilen auch für die immobile Ware: die gewerbliche Errichtung des Wohn- oder Industrieraums, d.h. der von den Arbeitern erpresste Mehrwert bei der Bebauung der Grundstücke, sowie die Betriebskosten (Instandhaltung der Immobilie, Wasser, Strom, Gas) dieser Immobilien sind im Preis/Wert des Wohn- oder Industrieraums inbegriffen. Der Ware Wohnraum kommt aber trotzdem eine gewisse Eigenheit zu, die über die bekannte Wertbestimmung der Ware im Kapital hinaus geht. Der ursprünglich frei verfügbare Boden, auf dem die Immobilie errichtet wurde, hat bereits oder bekommt fortan einen Preis, dem allerdings nicht eine quantitative Wertbestimmung korrespondiert. Grund und Boden sind nicht durch eine allgemein menschliche Arbeit am Gegenstand entstanden. So bekommen Grund und Boden Qualität, ohne dass wertbildende Quantität je in diese einging. Durch diese Abwendung von der abstrakt als Grundlage der Wertbestimmung geltenden menschlichen Arbeit verlässt man die Marxsche Werttheorie bei der Bodenbewertung.

Der Bodenpreis ist somit ein reines Politikum. Deswegen tut sich die bürgerliche Philosophie mit der Rechtfertigung der willkürlichen Bodenverteilung nach den Bodenreformen schwer. Denn die entscheidende Frage, warum denn der Boden in der bürgerlichen Gesellschaft nicht frei verfügbar, sondern zum (Privat-)Eigentum mit Ausschließungsklausel für andere wird, lässt sich aus der Immanenz der bürgerlichen Gesetze, aus Eigentum, Recht und Freiheit, nicht erklären. Marx zeigt in dem Abschnitt über die ursprüngliche Akkumulation auf, dass man sich den Grund und Boden über einen kurzen Zeitraum in der Geschichte willkürlich, mit Gewalt aneignen konnte.[6] Das wiederum reflektieren bürgerliche Philosophen nicht. Ihre Rechtfertigungen des bürgerlichen Privateigentums an Grund und Boden werden zu Apologien der gesellschaftlichen Herrschaft und der aneignenden historischen Gewalt. Der liberale Vordenker John Locke liefert dafür den besten Beweis. Alle seinem Beispiel folgenden liberalen Theorien sind Variationen seines liberalistischen Denkens. Locke verteidigt die gewaltsame Aneignung des Bodens durch Wenige im Zuge der bürgerliche Revolution und ihren Bodenreformen. Für seine Verteidigung der Expropriation stellt er die Verteilung von nutzbarem Boden, der zum exklusiven Privateigentum wird, als einen intersubjektiven Konsens in der Gesellschaft dar, als „by compact and agreement“[7] vonstatten gehendes historisches Ereignis.

Nicht nur stellt Locke damit die Geschichte der Bodenreformen falsch dar, er übersieht auch die Wichtigkeit der Bodenfrage für die zu seiner Zeit im Entstehen begriffene kapitalistische Produktionsweise. Der Boden hat für Locke noch keinen oder nur geringen Wert. Zudem habe derjenige, der den Boden mit seinen eigenen Händen bearbeite, auch immer ein entsprechendes Eigentumsrecht daran. Dadurch stellt Locke die kapitalistische Wirtschaftsform und die damit einhergehenden Eigentumsrechte noch naiv inadäquat dar. Seiner Logik zufolge müssten alle Arbeiter post festum ein Eigentumsrecht an den Gegenständen haben, auch wenn sie diese gegen ein entsprechendes Lohnentgelt für andere, die Eigentümer an Produktionsmitteln, hergestellt haben. Das ist und war selbstverständlich schon zu Lockes Zeiten nicht der Fall. Das konkrete Eigentum, das die Arbeiter aus dem Produktionsprozess mitnehmen, ist zum einen ihre Ware Arbeitskraft, zum anderen die allgemeinste Ware Geld durch ihre Entlohnung. Nun sind selbst die Eigentümer an Produktionsmitteln auch nicht immer gleich die Eigentümer des Grund und Bodens, auf dem sie ihre Produktionsmittel von Lohnarbeitern anwenden lassen. Auch sie werden es – wider Locke – nicht, ganz gleich, wie viel Produktion sie auf dem vom Grundeigentümer gepachteten Boden stattfinden lassen. Kants Theorie über den Boden ist – vielleicht der seit Lockes Theorie vergangenen Zeit und des Fortschritts des Kapitalismus geschuldet – etwas erhellender. Aber auch Kants Philosophie bleibt ideologisch, weil sie die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse nicht in ihrer ökonomischen Substanz begreift.[8] Der Boden in der kapitalistischen Gesellschaft ist und bleibt jedoch das „ursprüngliche Produktionsmittel“[9]. Mittels der liberalen Gesetzgebung des sie ordnenden bürgerlichen Staats wird das ursprüngliche Produktionsmittel in der kapitalistischen Produktionsweise als ein exklusives Eigentum von jemandem und für jemanden abgesichert. Das durch den Staat geschützte Gesetz des Eigentums liefert damit die Grundlage bzw. die Begründung für eine kapitalistische Nutzung des exklusiv für Wenige gewordenen Bodens. Grund und Boden sind deshalb in ihrer Bedeutung für Nationalstaat und Kapital nicht zu unterschätzen.

Der kurzen Geschichte der kapitalistischen Bodenreformen und den willkürlichen Aneignungen räumt man in heutigen Diskussionen übers Bauen, Wohnen und der Problematik der Mietpreisexplosion keine entscheidende Rolle mehr ein. Die damalige Expropriation der Masse zu Beginn des kapitalistischen Zeitalters wird als gegeben hingenommen und die die Masse ausschließende Exklusivität des Bodens als Problem kaum noch wahrgenommen. Das aber ist ein Versäumnis. Das Wohnen wird aktuell auch deshalb immer teurer, weil der Boden in der kapitalistischen Gesellschaftsform nach wie vor (Privat-)Eigentum ist und dem Grundeigentümer rechtlich als eine exklusive Einnahmequelle garantiert wird. Die Willkür der bodenreformerischen Zuschreibung von Grund und Boden von damals wird heute gegen die Willkür einer gesellschaftlichen Übernahme und Organisation von Eigentum abgesichert. Dafür dient das verfassungsmäßig garantierte Eigentumsgesetz, dass die Exklusivität von Grund und Boden als Eigentumstitel garantiert. In diesem Text wird deshalb insbesondere die traditionelle Rechtsgrundlage einer kapitalistisch organisierten Naturbeherrschung in den Vordergrund gerückt.

 

  1. Zur Gewährleistung vom Eigentum an Grund und Boden als Grundrecht

Jeder kapitalistische Nationalstaat stellt sicher, dass seine Bürger mit der ihnen juristisch zugeschriebenen Erdober- und gegebenenfalls auch unterfläche Geld verdienen. Eine der wesentlichsten Aufgaben des Staates besteht darin, die Eigentumstitel an die Grundeigentümer zu vergeben. Ohne diese offizielle Lizensierung könnten die Eigentümer gar keine exklusiven Geschäfte zu ihren Gunsten machen. Der große Vorteil der staatlichen Lizensierung der Grundeigentümer als Eigentümer ist, dass sie mittels des rechtlich ihnen zugesicherten Eigentumstitels mit ihrer nie durch menschliche Arbeit produzierten Nutzungsfläche Geld verdienen dürfen. Sie bekommen dadurch das Recht, andere von der Nutzung ihres Eigentums und damit von existentiellen Reichtumsquellen auszuschließen. Die Grundeigentümer bekommen so als Klasse ihre willkürliche Eroberung aus den Zeiten der Bodenreformen vom Staat als ihr Eigentum rechtlich abgesichert: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.“[10] So ist das Eigentum der tradierte Faustpfand der gesellschaftlichen Gewinner; und die gesellschaftlichen Aufstiege von Bürgern zu Grundeigentümern bleiben post festum relativ überschaubar. Großgrundbesitzer, Junker und Kirchen konnten historisch ihren rechtlich durch den Staat abgesicherten Boden vergolden.

Das Gewährleistung des (Privat-)Eigentums ist in der bürgerlichen Gesellschaft also ein grundgesetzlich gesichertes Recht. Hinter der von der bürgerlichen Rechtsprechung aufgebauten Kulisse des Schutzes von Besitzständen versteckt sich jedoch die eigentliche Intention des ausschließenden Eigentumsrechts. Der oben zitierte Artikel 14 des deutschen GG beschreibt das zentrale, juristisch über den Eigentumstitel abgesicherte Gewalt- und Herrschaftsverhältnis in der bürgerlichen Gesellschaft. So dient dem erklärten Eigentümer des Immobilen der notarielle Grundbucheintrag zunächst als eine recht sichere Einkommensquelle in der bürgerlichen Gesellschaft, weil die Menschen immer auf Grund und Boden zurückgreifen müssen, um sich reproduzieren zu können. Der beglaubigte Grundbucheintrag spricht dem Grundeigentümer also eine staatlich garantierte Verfügungsmacht über einen Teil des nationalen Grund und Bodens zu. Über diesen Teil des Bodens darf ausschließlich er allein verfügen. So kann, darf und wird der Eigentümer seine Immobilie gegen ein entsprechendes Entgelt anderen zur wirtschaftlichen oder wohnlichen Nutzung zur Verfügung stellen. Viel mehr als das ausschließende Recht zeitweilig gegen eine entsprechende Bezahlung abzugeben, macht der Grundeigentümer nicht. Das Reichtum der Grundeigentümer basiert insofern auf dem ihnen rechtlich durch den Nationalstaat garantierten Ausschlusskriterium anderer von fremdem, in dem Fall seinem, Eigentum.

Der Preis für das Nutzungsrecht des Immobilen, den die Nutzer den Eigentümern zahlen müssen, ist deshalb eine Tributzahlung. Die ökonomischen Verlierer der kapitalistischen Bodenreformen stehen nachhaltig in der Schuld der historischen Sieger. Marx beschreibt dieses in der kapitalistischen Gesellschaft zentrale Verfügungsverhältnis im dritten Band des Kapitals: „Ein Teil der Gesellschaft verlangt hier von den anderen einen Tribut für das Recht, die Erde bewohnen zu dürfen, wie überhaupt im Grundeigentum das Recht der Eigentümer eingeschlossen ist, den Erdkörper, die Eingeweide der Erde, die Luft und damit die Erhaltung und Entwicklung des Lebens zu exploitieren.“[11]

Zur ökonomischen Nutzung können Grundeigentümer ihren Boden Kapitalisten zur Verfügung stellen, wenn sie nicht selbst als Kapitalisten aus ihrem Eigentum Kapital schlagen wollen. Wird ein Stück Boden mit dem Ziel seiner kapitalistischen Nutzung verpachtet, beteiligt der Kapitalist den Grundeigentümer an der gesellschaftlichen (Mehr-)Wertgewinnung. Der Kapitalist hingegen vermehrt sein Kapital bekanntlich nur dadurch, dass er nach den bürgerlichen Revolutionen (nach der „ursprünglichen Akkumulation“) den doppelt freigestellten Lohnarbeiter zur Anwendung seiner zur Verfügung gestellten, privateigentümlichen Produktionsmittel kauft. Er verwertet sein Kapital, sein Eigentum an Produktionsmitteln, durch die Hinzufügung eines Mehrwerts, den er aus den Lohnarbeitern vertraglich pressen darf (s.o.). Die gesellschaftlich mit dem Arbeitsvertrag erzwungene Mehrarbeit stellt insofern das im Ensemble der Kapitalisten notwendige kapitalistische Surplus als wesentlichen Teil des Profits dar. Aus dem Pool des Profits wird dann auch der Grundeigentümer bezahlt, sollte er nicht Eigentümer des Grund und Bodens seiner Produktionsstätten sein. Die den Boden der Grundeigentümer pachtenden Kapitalisten machen insofern bei der Ausbeutung der den Boden bewirtschaftenden Lohnarbeiter mit dem Grundeigentümer gemeinsame Sache.

Der Lohn der Proletarier, von dem der Mehrwert bereits abgegangen ist, schrumpft durch die Mietzahlung an den Wohnraumeigentümer nochmals eklatant. So verdient die gesamte Klasse der Eigentümer an Grund, Boden und Produktionsmitteln an allen Schaltstellen der bürgerlichen Gesellschaft durch die Form der Produktion in der kapitalistischen Gesellschaft, die auf dem ausschließenden Eigentumsrecht als eine logische Kategorie der kapitalistischen Produktionsweise aufbaut.

  1. Boden, Spekulation und Grundsteuer

Das Verfügungsrecht über seinen Grund und Boden gibt dem Eigentümer selbstverständlich das Recht, seinen ins Grundbuch eingetragenen Boden mit Gewinn zu veräußern oder zu vermieten. Verkauft er die reine Bodennutzfläche, ist der Preis dafür immer rein spekulativ. Lediglich Erfahrungs- und/oder regionale Durchschnittswerte können in den Preis mit eingehen. Befinden sich allerdings schon Häuser oder Produktionsstätten auf dem Grundeigentum, oder sind etwa schon Felder oder andere Bewirtschaftungen auf dem zu verkaufenden Boden angelegt, bemisst sich der Verkaufspreis selbstverständlich auch an dem jeweiligen Wert dieser bereits existierenden Anlagen.

Bei der Preisfestsetzung des Immobilen spielt vor allem die wirtschaftliche Attraktivität des zu verkaufenden Bodens die größte Rolle. In der Landwirtschaft geht es neben der Bodenfruchtbarkeit auch um eine gute Anbindung an ein infrastrukturelles Netz, damit die hergestellten Waren vom Produktionsort schneller und bequemer umgeschlagen werden können. Die Grundeigentümer sind darum fortwährend daran interessiert, ihr ‚Quartier’ oder ihren Grund und Boden ökonomisch attraktiver zu gestalten, um damit ihr Eigentum attraktiver zu machen. In Gebieten, in denen man eine gute wirtschaftliche Verwertbarkeit der Flächen erwartet, wird die Anmietung und der Kauf von Grund und Boden selbstverständlich schon heute teurer. Wie auch bei der Vermietung von Flächen gilt die Möglichkeit einer späteren Gewinnerzielung durch die entsprechenden Eigentumstitel als zu beachtender Wertparameter. Was an Gewinnen für den neuen Eigentümer spekulativ erwartet wird, und sich im Preis beim Verkauf des Bodens widerspiegelt, speist sich also aus der zu erwartenden Miete, der Pacht oder geplanten Infrastrukturprojekten. In den spekulativen Anteil des Preises werden deshalb zukünftig mögliche Mieteinnahmen genauso wie mögliche Gewinne aus einer vor Ort entstehenden Produktionsstätte einberechnet. Die Aufwertung von Stadtteilen oder Straßenzügen mit Cafés, Theatern oder Konzerthäusern wirkt sich deshalb immer positiv auf die Entwicklung der Immobilienpreise aus, egal ob bei der Anmietung oder dem Ankauf. Wo es attraktiver ist oder wird zu wohnen, muss der Mieter auch mehr für den angemieteten Wohnraum zahlen und der Käufer mehr für die Immobilie auf den Tisch legen. Wenn aufgrund der guten Lage mehr Umsatz von einem Räume pachtenden Geschäft erwartet wird, muss entsprechend mehr Pacht an den Eigentümer gezahlt werden. Das erklärt die unterschiedlichen Miet- und Pachtpreise pro Quadratmeter in ein und derselben Stadt. Die so genannte Gentrifizierung ist deshalb ein beständiges Streben der Wohnraumeigentümer, ihre Immobilien attraktiver bzw. dadurch wertvoller zu machen.

Der unbearbeitete, unbewegliche Boden wird so das Stückchen unbearbeitete Natur, das als ein fiktiver Kapitalwert in die Preisbestimmung innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise spekulativ eingeht. Damit gleicht sich die unbearbeitete Natur dem Sammelsurium der spekulativen Werte in der kapitalistischen Gesellschaft an. Wie der Kapitaleigentümer auf den Zins aus seinen Produktionsmitteln spekuliert oder der Aktionär auf die Dividende, so spekuliert der Grundeigentümer auf regelmäßige Gewinne aus seinem immobilen Eigentum. Die zu erwartenden Erträge aus den Mieteinnahmen durchs Grundeigentum ähneln insofern der ganz gewöhnlichen Aktienbewertung.

Auch in die Bewertung der Immobilienpreise spielen selbstverständlich gesellschaftliche Entwicklungen – wie bei der Aktienbewertung – hinein. Die Spekulation über die Entwicklung der Gewinne, die allgemeine Zinslage, beeinflusst auch den Preis für Grund und Boden. Sind die Zinsen, wie momentan, niedrig und der Aktienmarkt schwach, investieren Anleger bevorzugt in recht solide Anlageoptionen wie Grund und Boden. Von diesen Investitionen versprechen sie sich einen sicheren Gewinn, weil, aller Konjunkturschwankungen ungeachtet, der Boden als ursprüngliches Produktionsmittel in der kapitalistischen Warenwirtschaft entscheidend ist und auch der Wohnraum immer eine existentielle Notwendigkeit bleiben wird. Kein kapitalistisches Geschäft kann und wird ohne Grund und Boden vonstatten gehen. Selbst die spekulativsten Geschäfte verweisen am Ende auf einen, wie auch immer, bewirtschafteten Boden. Deswegen ist und bleibt der grundgesetzlich als Eigentum geschützte Boden die sicherste und solideste Investitionsmöglichkeit für Menschen mit Geld und Kapital. Die stete Notwendigkeit von Grund und Boden für kapitalistische Geschäfte und der deswegen auch garantierte institutionalisierte Schutz der Immobilien gibt der Bodenspekulation einen soliden Vorteil gegenüber den immer recht volatilen Aktien.

Vergessen werden darf dabei aber nicht, dass der Staat zum einen selbstverständlich selber Großgrundbesitzer ist, zum anderen aber Steuern auf den Grundbesitz der Privatleute erhebt. Darüber verdient er erheblich an deren Gewinnen mit. Die Besteuerung des Grund und Bodens ist eine Art allgemeines und geregeltes Schutzgeld, denn die Steuern sind für die weitere Absicherung des Grund und Bodens der Eigentümer gedacht. Auch die vom Staat auf Immobilien erhobene Grundsteuer ist nichts anderes als eine Zwangsabgabe auf die spekulierten Gewinne in den einzelnen Städten und Gemeinden. Die Höhe der Grundsteuer bemisst sich immer am Verkaufswert des Grundstücks in der jeweiligen Lage, nicht aber am reellen Verkehrswert der Immobilie. Nicht umsonst heißt die Grundsteuer deshalb auch Bodenzins. Staat und Kapital machen also auch bei der Bodenspekulation, die zur vermehrten Preistreiberei im Immobiliensektor führt, gemeinsame Sache.

  1. Der bürgerliche Staat als objektive Ordnungsmacht nationaler Böden

Der oben bereits zitierte Artikel 14 GG beschützt das Grundeigentum als ein Grundrecht in der Bundesrepublik Deutschland. Auch für den liberalen Philosophen John Locke ist das Eigentum in seinen Treatises ein basic right[12] – und die Fifth Amendment der von Locke entscheidend beeinflussten Constitution of the USA schützt das Privateigentum ebenfalls als grundlegendes Recht der Bürgerinnen und Bürger. In anderen bürgerlichen Staaten ist das nicht anders.

Das Grundeigentum an Boden ist ein notwendiger Grundbaustein kapitalistischer Gesellschaften weltweit. Heute ist zudem nahezu jedes Stückchen Land vermessen und es wurde auch einem jeweiligen Eigentümer zugeordnet, der als Immobilieneigentümer in dem Grundbuch der Gemeinden steht. Für den Schutz und die Aufrechterhaltung des Privateigentums verlangen die Nationalstaaten von den Eigentümern an Grund und Boden, aber selbstverständlich auch von deren Nichteigentümern, Steuern. Ein staatlich geschütztes Grundeigentum ist aber nicht nur dafür verantwortlich, dass überhaupt Mieten eingefordert werden können. Es ist auch dafür verantwortlich, dass die Klasse der Arbeiter weiterhin am Rande der Existenzbedrohung leben muss. Sie bleiben weiterhin Lohnarbeiter, weil sie kein Grundeigentum bzw. Eigentum an Produktionsmitteln haben und sie im allgemeinen Reproduktionsprozess weiterhin nur ihr Eigentum an Ware Arbeitskraft besitzen. Der großen Masse der Bevölkerung ist eine Verfügung über Grund und Boden in kapitalistischen Staaten somit unmöglich. Im Eigentumstausch gilt der erhaltene Lohn als ihr äquivalentes Eigentum aus den Tauschgeschäften, die sie gegen ihre Ware Arbeitskraft eingehen. Die Landlosen in der kapitalistischen Gesellschaft müssen sich deshalb immer wieder bittstellend als Lohnarbeiter vor die Tore der Kapitalisten stellen. Durch die Eigentumsgesetze können sie weder Eigentum an etwas anderem als ihrer Arbeitskraft erwerben, noch ist es ihnen aufgrund der Ausschlussklausel von Dritten wie im Feudalismus möglich, Subsistenzwirtschaft zu betreiben.

Einen Zwang zu Arbeiten verspürt die Arbeiterklasse allein schon deshalb am eigenen Leib, weil sie von ihrem Lohn noch eine Miete an Grundeigentümer von Wohnraum zu zahlen haben. Das gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis drückt sich im kapitalistischen Miet- und Wohnverhältnis sogar noch viel brutaler als im Lohnabhängigkeitsverhältnis aus. Vom Arbeitsverhältnis könnte man sich unter der Inkaufnahme großer Probleme sogar noch lösen. Ein Arbeitsplatzwechsel oder selbst die Niederlegung der Lohnarbeit steht einem ‚frei’. Auch ein organisierter Arbeitskampf kann vorübergehende Abhilfen für die durch Lohnarbeit Ausgebeuteten schaffen, indem die kapitalistischen Machtverhältnisse durch einen Produktionsstopp herausgefordert werden. Als Mieter aber kann man das im Mietvertrag liegende gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis nicht so einfach angreifen: das Wohnen kann man nicht, anders als die Arbeit, organisiert einstellen; einen organisierten Wohnkampf mit ähnlich festgeschriebenen Rechten wie im Arbeitskampf kann es nicht geben. Ein Mieter kann sich zwar innerhalb der Rechtsverhältnisse gegen Ungerechtigkeiten auf dem Wohn- und Mietenmarkt zur Wehr setzen. Die Einbehaltung von Mietzahlungen aufgrund von Mietmängeln ist jedoch durch eine völlig andere Zweckbezogenheit nicht mit einem organisierten Arbeitskampf zu vergleichen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse zwingen die Subjekte deshalb um ihrer eigenen Reproduktion Willen immer noch mehr in die kapitalistischen Wohnverhältnisse als in die kapitalistischen Arbeitsverhältnisse.

Damit ist offensichtlich geworden, dass die grundlegenden Gesetze des Eigentums in der bürgerlichen Gesellschaft für die kapitalistische Ausbeutung der Arbeiterklasse verantwortlich sind. Das, was aus der bürgerlichen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit folgt, ist das, was auch die linken Verfassungspatrioten nie als unmittelbare Folge der verfassungsmäßig verbrieften Rechte sehen. Das grundlegende Eigentumsrecht, das Grundrecht auf ‚Freiheit, Gleichheit und Eigentum’, ist die formelle Bedingung dessen, was mit der dadurch in Gang gesetzte Produktionsweise zu jenen phänomenalen Problemen führt, die bürgerliche Linke gerne als verfassungswidrige Zustände kritisieren. Übersehen wird, dass die die Massen an Lohnarbeit und Ausbeutung nachhaltig fesselnden gesellschaftlichen Zustände geradewegs ein Resultat des Grundgesetzes sind. Verfassungspatrioten kritisieren insofern die Phänomene, die aus den Eigentumsgesetzen entstehen, mit ihrer formellen, zweckgebenden Grundlage. Das hat einen circulus vitiosus zur Folge. Dieser Teufelskreis fesselt die vermeintlichen Kritiker in ihrem Aktionismus ans System, indem sie nolens volens PR für den status quo machen. Grund, Ursache und Wirkung des kritisierten Gegenstands werden von ihnen nicht begriffen. So wird dann ein vermeintlich kritisches Engagement gegen den Kapitalismus, den man im Einklang mit den bürgerlichen Grundrechten vorträgt, ein Engagement für genau das, was man in der Gesellschaft eigentlich verhindert sehen möchte. Der Verfassungspatriotismus wird damit ein tool, um bestehende Herrschaftsverhältnisse auf nationalem Gebiet unangetastet zu lassen. Ein Schutz der Grundrechte bedeutet, dass man dem bestehenden kapitalistischen Herrschaftsverhältnis Bestandsschutz ermöglicht.

Der bürgerliche Staat schützt aber nicht nur den Grundbesitz als Eigentum und lässt sich diesen Schutz über die explizite Besteuerung von Eigentum gut bezahlen. Er organisiert den Grund und Boden auch noch, und zwar anhand des in seiner Kontrolle obliegenden Flächennutzungsplans. Jede Fläche auf seinem Gebiet bekommt eigene Nutzungsrechte. Dadurch wird einer wilden, eventuell aus dem Ruder laufenden, Bodenspekulation Einhalt geboten. Agrar- und Gewerbeflächen separiert man für normalerweise von den Wohnflächen; so genannte Mischflächen werden bei ökonomischen Bedarf aber trotzdem zugelassen. Die Raumordnung organisiert den Grund und Boden nach Nutzungsplan und Kapitalbedarf im bürgerlichen Nationalstaat. Auch über geplante Baumaßnahmen auf den Grundstücken entscheiden letztendlich staatliche Gerichte und nicht die Eigentümer. So überlässt der Nationalstaat auf dem Immobilienmarkt nichts der privaten Hand. Über die Höhe und Nutzungsweise der geplanten Gebäude wird genau so wie über die Gebäudeerweiterungen von Gerichten entschieden. Es wird insofern nicht einmal den privaten Grundeigentümern überlassen, wie sie über ihren Boden, für den sie dauerhaft vom Staat besteuert werden, verfügen, bzw. wie sie mit ihrem Eigentum Geld verdienen.

Der Staat nutzt seine übergeordnete Macht über die Böden, um planmäßig mit den Bodenflächen zum größtmöglichen kapitalistischen Nutzen zu kommen. Kein bürgerlicher Nationalstaat gibt den Immobilienmarkt dabei aus der Hand. Eine erfolgreich geordnete Nutzung von Böden heißt für den Staat: mehr Steuergelder und damit eine bessere internationale Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen, konkurrierenden kapitalistischen Staaten. Staat und Kapital gehen insofern auch hier zweckökonomisch Hand in Hand. Private Eigentümer profitieren von staatlich geplanten und durchgeführten Infrastrukturmaßnahmen. Dort, wo der Staat seine Flächen zur wirtschaftlichen Nutzung neu verplant und organisiert, können sich die Grundstückspreise der privaten Eigentümer deutlich verteuern.

Der Staat hat sogar immer die Möglichkeit, an die Eigentümer ausgestellte ‚Lizenzen zum Geldverdienen’ zurückfordern. Eine rechtlich legale Enteignung durch den Staat kann private Einzelkapitalisten von ihren lukrativen Böden zum, so sagt es das Gesetz, „Wohle der Allgemeinheit“[13] entheben. Die hier im Gesetzestext herangezogene Allgemeinheit ist allerdings mit dem gut organisierten kapitalistischen Allgemeinwohl zu übersetzen. Der bürgerliche Staat enteignet, um seine eigenen Interessen als „ideeller Gesamtkapitalist“ durchzusetzen. Das heißt, es wird dann enteignet, wenn die Interessen der privaten Grundeigentümer beispielsweise einer neuen, staatlichen Nutzungsordnungen von Grund und Boden im Wege stehen.

Ganz selten schafft er mit den eingetriebenen Steuergeldern auch mal bezahlbaren Wohnraum für die Arbeiterklasse oder Arbeitslose. Er greift als objektive Ordnungsmacht der Böden dann in den Wohnungsmarkt ein, um das Verhältnis von Mietern und Vermietern (wieder) zu befrieden und die antagonistischen Willensverhältnisse gesellschafts- bzw. geschäftstauglich zu kompensieren. Der kapitalistische Staat nimmt damit also eine sehr exklusive Rolle auf dem kapitalistischen Immobilienmarkt ein: die des obersten Grundherren der kapitalistischen Bodennutzungsflächen auf seinem Staatsgebiet.

  1. Zur Ideologie des bürgerlichen Staates als Schlichter auf dem kapitalistischen Wohnungsmarkt

Auf dem kapitalistischen Wohnungsmarkt stehen sich, wie auch auf dem Arbeitsmarkt, zwei ökonomisch völlig ungleiche, juristisch aber gleiche Partner gegenüber. Vertraglich werden deren inkompatible Willen nicht, bis auf wenige Details, durch einen intersubjektiven Konsens vermittelt, sondern beide Willen finden im gesetzlichen Rahmen ihren durch die gesellschaftlichen Verhältnisse vermittelt erzwungenen Konsens. Ein Vertrag über die Nutzung von Wohnraum setzt nämlich einer zunächst freien intersubjektiven Aushandlung von Mieten und Mietveränderungen[14] immer einen objektiv durch die Staatsgewalt abgesicherten Rahmen auf, der für beide Seiten/Subjekte Gültigkeit hat. Das objektiv durch den Staat gesicherte Vertragsverhältnis bringt also erst die antagonistischen Willen der Subjekte in objektiven Einklang miteinander. Beide Subjekte müssen im objektiven Vertragsverhältnis ihre Zufriedenheit finden, um später dann nicht unmittelbarem staatlichen Zwang ausgesetzt zu sein. Ein solches Verfahren ist bei Vertragsabschlüssen in der bürgerlichen Gesellschaft alternativlos. Subjekte können und müssen sich deshalb mit ihrem Willen auf die staatliche Gerichtsbarkeit berufen, sollten sie sich gegenüber dem Vertragspartner vertrags- bzw. gesetzeswidrig benachteiligt sehen.

Die Position des Mieters von Wohnraumeigentum wird in der BRD durch die Paragraphen im Mietrecht gestärkt. Im Wesentlichen wird dem Mieter hier ein Schutz vor willkürlicher Kündigung durch den Vermieter gewährt. In erster Linie ist der Schutz vor der willkürlichen Kündigung des Wohnraums, vor allem in Deutschland, einem Land mit sehr starkem Mieterschutz, Mittel zum Zweck des ideellen Gesamtkapitalisten und obersten Grundherren, staatliche Sozialhilfeleistungen möglichst lange einzusparen und die finanzielle Last eines gesellschaftlich Gescheiterten über einen längeren Zeitraum auf die Vermieter, die privaten Eigentümer, abzuwälzen. Wo die vom Staat organisierten kapitalistischen Verhältnisse also gnadenlos Menschen von ihren Reproduktionsbedingungen freisetzen, müssen trotzdem Privatpersonen mit ihrem Privatvermögen für die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse haften.

Wenn bürgerliche Linke nun anführen, dass das Mieterschutzrecht eine wohlwollende Geste des bürgerlichen Staates vor eventueller Ausgrenzung und Obdachlosigkeit gegenüber dem gesellschaftlich Schwachen sei, ist das eine ideologisch geprägte Unterschätzung der Zwecke des garantierten Mieterrechts. Der Staat agiert nämlich trotz oder besser: wegen des Mieterschutzrechts weiterhin als der ideelle Gesamtkapitalist. Er nimmt in dieser Funktion die wesentlichen Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit nicht ins Visier. Er stellt den Kapitalismus, sein antagonistisches Klassenverhältnis und das Recht auf Eigentum mit all den daraus hervorgehenden Phänomenen als ideeller Gesamtkapitalist nicht auf den Prüfstand. So ist die Überzeugung von der Güte des Nationalstaats an der Stelle blanke Ideologie.

Der spröde ideologische Schein des Schutzes gesellschaftlich Schwacher löst sich bei genauerem Hinsehen auch explizit auf. Der Schutz bleibt unmittelbar an Bedingungen geknüpft, die im Gegenzug zu erfüllen sind. Um den Traum von den ‚eigenen’ vier gemieteten Wänden real werden zu lassen, muss der Mieter bestimmte Bedingungen für seine Bedürftigkeit und seinen Schutz erfüllen. Diese Voraussetzungen sind genau so im Mietrecht des BGB enthalten, das ihn vor zu schneller Obdachlosigkeit schützt.[15] Der Gesetzgeber stellt darin Verhaltensregeln für die Mietpartei auf. Festgelegt wird, wer wirklich in den angemieteten vier Wänden zu wohnen hat und ob der Mieter Haustiere (und von welcher Größe) halten darf, ob er rauchen und zu welchen Zeiten er die Ruhe stören darf und auch wann er dazu verpflichtet ist, Renovierungsarbeiten in der gemieteten Wohnung durchzuführen etc. Dem Mieter wird so per Gesetz ein ordentlicher Rahmen vorgegeben, wie er sich im fremden Eigentum zu verhalten hat. Der einzige Vorteil der Befolgung der Regeln für den Mieter ist, dass er bloß unter großen Anstrengungen von Vermieterseite sein Dach über dem Kopf verlieren kann. Nur eine Klage auf Eigennutzung, mehrere Monate ausstehende Mietschuld oder grobe Verstöße gegen die staatlich auferlegten Pflichten lassen ihn legal aus den Wohnräumen entfernen.

Im Gewerbemietrecht sieht der Staat allerdings weniger Gefahren für sich und seinen Haushalt. Er hat sich dementsprechend weniger Handlungsbedarf in diesem geschäftlichen Bereich der Immobilienwirtschaft gegeben. Eine Abfederung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist ihm im Geschäftsleben nicht so wichtig, weshalb auch die Kündigungsfristen andere als bei privaten Mietverträgen sind.[16]

Aber selbstverständlich werden auch dem Vermieter von Wohnraum durch das Mietrecht Rechte zugesprochen, selbst wenn das Mietrecht im BGB klassischerweise als „Wohnraummieterschutzrecht“[17] gilt. Zum Beispiel darf der Eigentümer den Preis für die Nutzung seiner Immobilie durch den späteren Mieter festlegen. Aber ihm ist keine Willkür in der Preisfestlegung erlaubt, sondern er muss dabei nach den Regeln des Staates spielen. So liegt in Großstädten oftmals ein offizieller, qualifizierter Mietspiegel vor, der bei Mietstreitigkeiten um Mieterhöhungen und bei Festlegungen von Mieten die entsprechende rechtliche Grundlage der Einigung bildet. Ein Mietspiegel erfasst die lokalen Mieten und bildet damit den Durchschnitt aller Mietpreise ab. Als Durchschnittswert ist er ein grober Richtwert, an dem sich die Eigentümer mit um ihn oszillierenden Preisen für ihren Wohnraum zu orientieren haben, auch wenn auf dem Gebiet der preislichen Orientierung am Mietspiegel viele Ausnahmen gelten gelassen werden. Der Mietspiegel ist ein Instrument der Vermieter: Weil er den durchschnittlichen Preis an Miete beschreibt, die der Vermieter offiziell nehmen darf, stabilisiert der Mietspiegel seine Mieteinnahmen. Ausnahmen von der Mietspiegelbindung für bestimmte Immobilien wie Häuser oder Neubauten können die Einnahmen der Eigentümer (kurzfristig) erhöhen.

Nun rufen Mietzahlungen immer ein gewisses Unbehagen bei den Mietern hervor. In Zeiten steigender Mieten versuchen sie deswegen, sich selbst Wohneigentum anzuschaffen. Sie möchten so nicht nur den unangenehmen Mietverhältnissen, sondern auch den hohen Mietausgaben, vor allem in den Großstädten, entkommen. Dieser Schritt zur eigentümlichen ‚Selbstständigkeit’ wird momentan durch günstige Kredite der Banken befeuert.

Um selbst Wohnraumeigentümer zu sein, müssen sich die Proletarier bei einer Bank verschulden, die ihnen das Geld für die eigene Immobilie vorschießt. Diese vermeintliche Freiheit durch eigenes Eigentum ist eine klassische Fetischfreiheit von gesellschaftlichen Zwängen durch die willentliche Einbindung der eigenen Person in gesellschaftliche Zwänge. Die Verschuldung zugunsten des Austritts aus dem Mietverhältnis bindet die Arbeitskraft der Kreditnehmer durch die damit einhergehenden Verpflichtungen noch mehr an das kapitalistische System. Der Arbeiter verpflichtet sich mit dem Erwerb einer Immobilie zur Zahlung der Hypothek an seine Bank, die er über viele Jahre, manch einer sogar bis zum Renteneintrittsalter, abbezahlen muss. Schulden bei der Bank machen ein Subjekt nicht freier oder selbstständiger, selbst wenn es sich mit den Komplikationen in Grenzen halten sollte. Geht das Experiment als Wohnraumeigentümer jedoch durch Arbeitslosigkeit, Krankheit etc. schief, so beginnt für den Proletarier ein noch viel ungemütlicheres Kapitel seines Lebens. Kann er dann auch nicht mehr verkaufen oder die Immobilie irgendwie kostentragend selbst vermieten, bleibt ihm einzig noch eine Zwangsversteigerung. Das ist aber nicht das Ende des Kapitels seines Wohneigentümerlebens, sondern daraus folgt ein Berg Schulden für ihn, für dessen Tilgung er dann weiterarbeiten muss. Als Resultat seiner gesellschaftlich so anerkannten Anstrengungen bleibt dann nicht die lang ersehnte Immobilie als eigener Alterswohnsitz kurz vor dem eigenen Ableben, sondern eine ihn auslaugende und als restunabhängiges Subjekt endgültig zerstörende Grundschuld.

Das aber ist für viele kleine Geldanleger noch lange kein Grund zum Innehalten. Auch der Staat fördert solch riskante Formen der Geldanlage für Proletarier über das so genannte „Wohn-Riestern“[18]. Das Modell soll den Menschen die Investition in Wohneigentum zur Altersvorsorge ermöglichen und erleichtern. Ziel dieser Anstrengung ist selbstverständlich nicht, der Arbeiterklasse ein schönes Immobilieneigentümerleben zur Rente zu garantieren. Der Staat möchte der Arbeiterklasse eine alternative, zum Leben reichende Rente durch ihre Verschuldung vorschlagen.

Der Nationalstaat lässt damit also auch die Proletarier auf seiner Klaviatur spielen. Gelöst werden mit der Förderung der Anschaffung von Wohneigentum durch Proletarier vor allem drei der komplexeren Angelegenheiten im bürgerlichen Staat: 1. die Ware Arbeitskraft wird nachhaltig an die nationalen Verhältnisse gebunden, womit der Arbeiter persönliche Freiheiten und seine Flexibilität einbüßt, 2. der Arbeiter braucht als Eigentümer von Immobilien keinen sozialen Wohnungsbau, 3. die an die nationalen Immobilienverhältnisse geketteten Proletarier haben ein verstärktes Interesse an den bestehenden kapitalistischen Eigentumsverhältnissen, weil sie nach dem Kauf einer Immobilie gesellschaftlich anerkannte Eigentümer – wenn auch auf sehr niedrigem Niveau – sind. Zwar dürfen sich alle Menschen Eigentümer von etwas nennen, aber mit dem Erwerb einer Immobilie beschleicht den Wohnraumeigentümer viel eher noch als den einfachen Proletarier das Gefühl, ein wichtiger, anerkannter Teil der Gesellschaft zu sein.

Nun kann man von bürgerlich linker Seite einwenden, es gäbe den sozialen Wohnungsbau zu Gunsten der Proletarier. Und selbstverständlich versucht der Nationalstaat formell mithilfe des sozialen Wohnungsbaus die Wohnungsnot der Arbeiter zu lindern. Der Staat subventioniert dafür den Billigbau privater Bauherren, indem er ihnen Steuern und Zinsen erlässt, wenn sie sich im Gegenzug über Jahre mit einer nur kostendeckenden Miete zufrieden geben. Erst danach dürfen sie auf dem Markt nach dem lokalen Mietspiegel ganz zu ihren Gunsten wirtschaften. Mit dem integrierten sozialen Wohnungsbau soll der Obdachlosigkeit und der daraus folgenden außerordentlichen Armut (also einer, die das kapitalistische System belastet) Einhalt geboten werden. Denn Menschen, die nichts als ihre politisch-ökonomischen Ketten zu verlieren haben, waren dem Nationalstaat schon immer verdächtig.

Der Trend beim sozialen Wohnungsbau geht momentan allerdings in die andere Richtung.[19] Kommunen und öffentliche Bauträger verkaufen die letzten Jahre immer mehr Sozialwohnungen an inzwischen global auftretende Immobiliengesellschaften. So füllt der Verkauf von vormals sozialem Wohnraum die angeblich notorisch klammen Staatskassen und verknappt dadurch den Wohnraum für die, die sich die Mieten heute angesichts der Lage auf dem Immobilienmarkt nicht mehr leisten können. Von einer existentiellen Grundabsicherung der Proletarierklasse auf dem Immobilienmarkt nimmt man damit von staatlicher Seite immer mehr Abstand; das entspricht der allgemeinen Trendwende des Abbaus von sozialen Sicherungssystemen nach 1990.

Diese Entwicklung lässt der Staat aber nicht versehentlich geschehen. Von den aktuell hohen Mieten profitiert nämlich nicht nur der Eigentümer der Wohn- oder Gewerbeeinheit, sondern eben auch der Staat – wenn selbstverständlich auch nur bis zu einem gewissen Grad.[20] Bei jeder Vermietung von Wohnraum verdient er – mit und durch die Vermieter – wie auch bei jedem Verkauf von Immobilien am Verkäufer und Käufer mit. Das wurde oben bereits deutlich. Keine Immobilie geht insofern je ganz in die Hände eines privaten Eigentümers über, der dann damit willkürlich schalten und walten kann. Der Staat profitiert über Steuern vom Verkauf (Grundsteuer etc.), und er bleibt selbstverständlich auch nach dem Verkauf weiterhin (Grundsteuer etc.) und dauerhaft im Geschäft.

In wenigen Fällen zahlt der Staat auch mal Wohngeld aus, damit arme Menschen überhaupt noch von, wie man so schön sagt, ‚ihrer Arbeit leben können’. Durch diese Subvention ist selbstverständlich nicht die bittere Armut trotz Arbeit im Kapitalismus verschwunden. Arme Menschen werden durch diese Maßnahme der Wohnraumsicherung weiterhin als ‚künstlich’ funktionsfähige Glieder ans kapitalistische System gefesselt. Durch diese notdürftige Vermeidung der Wohnungslosigkeit der Proletarier dezimiert der Nationalstaat das Lumpenproletariat und hält dem Kapital (und damit vermittelt auch sich) einen Teil der Arbeiterklasse arbeitsfähig. Daneben liefert und erhält der Staat so den Vermietern selbstverständlich auch eine weiterhin zahlende Kundschaft. Das Wohngeld für Wenige hält insofern den kapitalistischen Immobiliensektor am Laufen, von dem selbstverständlich auch der Staat durch die hohen Steuerforderungen profitiert. Subventioniert wird mit den Zahlungen des Wohngeldes, vermittelt über die Aufrechterhaltung der Einnahmequelle der Vermieter, die eigene staatliche Geldquelle.

Ein ganz ähnlich aufgebauter Kreislauf wird im Rahmen der bürgerlichen Grundsicherung, dem so genannten Hartz IV, in Gang gehalten. Hier bekommen Menschen vom Staat ebenfalls Geld zum Wohnen. Deren Vermieter zahlen das vom Staat kommende Geld anteilsweise als Steuern wieder zurück. So werden Kreisläufe der staatlichen Refinanzierung von Wohnraum erhalten. Der Staat profitiert hier gemeinsam mit den lizensierten Eigentümern von der Armut der Proletarier, die künstlich vor dem Fall ins Lumpenproletariat bewahrt werden.

Auch fernab der über Steuern der Eigentümer refinanzierten Sozialsysteme bestimmt der Staat den Immobilienmarkt und seine Entwicklung mit. Denn die momentan eklatant hohen Mieten auf dem ‚freien Immobilienmarkt’ sind durch den Nationalstaat und seine hohen Steuersätze auf das Eigentum an Wohnraum offensichtlich mitverschuldet. Auch die höheren Kaufpreise gehen darauf zurück. Die Belastung der Mieter und Eigentümer, die selbst in ihren Immobilien wohnen, entsteht vor allem durch die stetige Erhöhung der Grundsteuer B in den letzten Jahren. In Niedersachsen ist diese seit dem Jahr 2000 jährlich um rund 2,6 Prozent gestiegen.[21] Die so genannten Hebesätze der Grundsteuer werden immer durch die Städte und Kommunen bestimmt, weswegen sie in Deutschland nicht einheitlich sind. In Niedersachsen wird der Steuersatz mit 600 Prozent in Hannover am höchsten berechnet.[22]

Die staatlich erhobene Grundsteuer auf Immobilien wird heutzutage nicht von den Eigentümern bezahlt, sofern sie nicht selbst in ihrer Immobilie wohnen. Über die Nebenkostenabrechnungen werden die Mieter von Wohnraum an der so eklatant gestiegenen Steuer belastet. So steigen die Mietbelastungen nicht nur durch das momentan gesteigerte Vermarktungsinteresse der Vermieter, das mit offiziellen Mietspiegeln zumindest noch gebremst werden kann. Auch die preislichen Forderungen des Nationalstaates für Grund und Boden auf dem Staatsgebiet lassen die Miet- und Kaufpreise inzwischen außergewöhnlich schnell steigen. Der Staat verlangt einen immer höher werdenden Betrag für die alleinige Grundsicherung der Immobilien, was die Bürger stark belastet.

Die momentane Debatte über steigende Mieten darf deshalb nicht von den substantiellen Eigentumsverhältnissen und der zentralen Rolle des Staates in der bürgerlichen Gesellschaft schweigen. Wenn man heute über steigende Mieten und immer höhere Preise von Wohnungen spricht, darf man Staat und Kapital als dialektisch zu begreifendes Verhältnis in der kapitalistischen Produktionsweise nicht ignorieren. Kein Mietendeckel und keine Mietpreisbremse können je das rückgängig machen, was sich als die Erbsünde der bürgerlichen Gesellschaft erweist: die ursprüngliche Akkumulation und ihre bodenrechtlichen, eigentümlichen Folgen der Verteilung. Wird nun die Verantwortung des Staats mitsamt seines Rechtssystems bei den steigenden Mieten ignoriert und werden nur eindimensional das große Kapital oder der private Eigentümer für diese Entwicklung kritisiert, ist die Kritik am gegenwärtigen Zustand des kapitalistischen Immobilienmarkts substanzlos und deswegen nahezu obsolet. Die Charaktermasken des Kapitals sind und bleiben austauschbar als Phänomene von Etwas, das sie nicht selbst sind. Eine Kritik an einzelnen Prozessen in der kapitalistischen Gesellschaft kann nun zwar dazu beitragen, dass dem einzelnen Bürger über einen gewissen Zeitraum eine gewisse Entlastung entgegengebracht wird. Übersehen wird dann allerdings die sachzwingende Systematik hinter den kritisierten phänomenalen Zuständen. Die wesentlichen Herrschaftsverhältnisse bleiben also mit der eindimensionalen Kritik an einzelnen Kapitalisten und Vermietern unangetastet.

Selbst der vermeintlich radikale Versuch der Installation einer Mietpreisbremse setzt bloß am sozialen Phänomen der zu hohen Miete an. Weil aber die wesentlichen Bedingungen hinter den Erscheinungen wie selbstverständlich nicht hinterfragt werden, werden Veränderungen an den Mieten keine großen Veränderungen bringen. Solange nicht das private Eigentumsrecht der bürgerlichen Gesellschaft kritisch in Frage gestellt wird, sondern moralisch das ‚einseitige’ Geldverdienen der privaten Eigentümer der Wohn- und Gewerbeeinheiten abgelehnt wird, wird das grundlegende, wesentliche Herrschaftsverhältnis in der bürgerlichen Gesellschaft genau so wenig kritisiert wie das antagonistische Klassenverhältnis thematisiert. Das hilft einer Aufrechterhaltung des kapitalistischen status quo, weil man von den wesentlichen, substantiellen Bedingungen auf phänomenale, akzidentelle Entwicklungen ausweicht.

[1] https://interaktiv.morgenpost.de/berlinmieten/.

[2] https://www.welt.de/wirtschaft/article190140407/Hohe-Mieten-bremsen-deutschen-Jobboom-aus.html. Das liegt sicherlich auch an der durchaus prekären, unterdurchschnittlichen Entlohnung in jenen Bereichen, die den so genannten ‚Jobboom’ verzeichneten.

[3] https://www.spdfraktion.de/themen/wohnen-bezahlbar.

[4]https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Monatsberichte/2009/01/Artikel/analysen_und_berichte/B02-Eigenheimrentengesetz/Eigenheimrentengesetz.html.

[5] Peter Bulthaup, Das Gesetz der Befreiung. Und andere Texte (Zitat aus: Elemente des Antisemitismus. Ohne Untertitel), Lüneburg 1998, S. 123.

[6] Vgl. Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW 23, S. 741 ff.

[7] John Locke, Two Treatises of Government, Book II (Of Property), § 45, S. 93.

[8] Vgl. dazu Bengt Erik Bethmann, Gesellschaftliches Wesen und soziales Phänomen. Zur negativen Dialektik
von Phänomen, Wesen, gesellschaftlicher Totalität
und der Bedeutung für die Kritik des modernen Antisemitismus, Göttingen 2018, S. 189ff.

[9] Vgl. Maxi Berger, Arbeit, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung bei Hegel, S. 91, Peter Bulthaup, Rechtspragmatik oder von der Zwangsläufigkeit des sittlichen Verfalls der Justiz, S. 74.

[10] GG der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 14.

[11] Karl Marx, Das Kapital Bd. III, MEW 25, S. 782.

[12] Vgl. John Locke, Two Treatises of Government, Book II, Chapter 5, Of Property.

[13] GG Artikel 14 (3), https://dejure.org/gesetze/GG/14.html.

[14] Die Rede von freier Intersubjektivität ist hier bei genauerer Betrachtung fehl am Platz. In einer anderen Gesellschaft würde das Subjekt gar nicht auf die Idee kommen, einen solchen Konsens mit Dritten suchen zu müssen. Der Einfachheit der Formulierung halber unterstelle ich hier eine Freiheit des Willens ohne jede gesellschaftliche Reflexion.

[15] https://www.sueddeutsche.de/thema/Mietrecht.

[16] Es besteht hier kein „soziales Schutzbedürfnis“. https://www.mietrecht.org/gewerbe/gewerbemietrecht-im-bgb/.

[17] Ebd.

[18] https://www.deutschlandfunk.de/altersvorsorge-riester-rente-fuer-den-hauskauf-umwandeln.697.de.html?dram:article_id=422789.

[19] https://de.statista.com/infografik/12473/immer-weniger-sozialwohnungen-in-deutschland/

[20] Wann dieses Verhältnis sich zu Ungunsten der Staatskassen wendet, wird gut und gerne kontrovers diskutiert. Die Experten sind sich dabei nicht ganz einig, wie viel die Menschen an hohen Lebenshaltungskosten aufgrund der hohen Mieten vertragen müssen: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/hart-aber-fair-mieten-zu-hoch-wohnen-zu-teuer-15612538.html

[21] https://www.haz.de/Nachrichten/Wirtschaft/Hoehere-Grundsteuer-in-vielen-niedersaechsischen-Kommunen.

[22] Ebd.

Eine kritische Rezension von Bengt E. Bethmann

Der Film über die zentrale Figur der Auschwitzprozesse ist keiner, der die 1963 in Frankfurt beginnenden Prozesse gegen mehrere Nazigrößen in den Fokus nimmt. Das ist durch die unmittelbare Verbindung des Namens Bauer mit den Frankfurter Prozessen eine große Überraschung. Den Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer portraitieren Regisseur Lars Kraume und Drehbuchautor Olivier Guez in einer früheren Lebensphase. Im Jahr 1958 versucht Bauer Adolf Eichmann ausfindig zu machen. Sein Ziel: Eichmann der neuen bundesrepublikanischen Gerichtsbarkeit zu übergeben. Eichmann solle sich für seine Taten in Deutschland verantworten. So beschreibt der Film ein Stück unmittelbare bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte und taucht ein in die schiere Ohnmacht des antifaschistischen Kampfs in der Bonner Republik, in der Nazis leitende Positionen besetzen. Der Film nimmt sich dabei der großen Begriffe der Nachkriegszeit wie Zäsur, Erneuerung, Aufbruch und Schlussstrich an.

Burghardt Klaußner spielt Fritz Bauer unfassbar facettenreich. Ulrich Gutmair schreibt in der taz, dass Bauer durch Klaußner realistisch als der Mann dargestellt werde, der er gewesen sei.[1] Er wirkt durch Klaußners Spiel auch nie als ein vor Wut blinder Rächer, was zu sein man ihm vorwarf. Der Film lässt diesen Vorwurf mit Nachdruck zum Klischee werden. Bauer wirkt als Persönlichkeit der Zeitgeschichte authentisch-souverän, charismatisch und juristisch abgeklärt. Aber das ist nur eine Facette, die Klaußner aus der historischen Vorlage herauskitzelt. Er vermittelt Bauer auch als einen angegriffenen, verunsicherten und verzweifelten Generalstaatsanwalt, der in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zu recht nicht weiß, wer ihm Feind, wer ihm Freund ist – und der das Erlebte und seine Einsamkeit in einem gefährlichen Cocktail von Arbeit, Alkohol und Tabletten erstickt. Es sind die Verhältnisse, die an Bauer zerstörend nagen. Bauer ist paranoid. Als sein Vertrauter Angermann (R. Zehrfeld) eine Akte aus Bauers Büro zu Recherchezwecken entfernt, ist Bauer davon überzeugt, dass Nazihelfer Beweise aus seinem Büro verschwinden ließen. Bauers Paranoia ist ein Ausdruck realer Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der Bundesrepublik. Er ist ein Opfer seiner Umwelt geworden, das sich mit Händen und Füßen gegen seine gesellschaftliche Opferung wehrt. Bauer wehrt sich gegen sein erzwungenes und das freiwillige gesellschaftliche Schweigen.

Regisseur Kraume und Drehbuchautor Guez nähern sich auch der heimlichen Homosexualität Bauers respektvoll an, ohne sie je plump zum Gegenstand zu machen. Der Zuschauer soll sich bis zum Ende nicht ganz sicher sein, ob Bauer nun homosexuell, bisexuell oder asexuell war. Die Sexualität Bauers spielt auch überhaupt keine Rolle – was der Film beispiellos vermitteln kann. Sie spielt es aber angesichts der Verhältnisse in der Bundesrepublik doch. Und so wird Bauers Sexualität doch Gegenstand. Seine Sexualität wird zum juristischen Sachverhalt, weil die Bundesrepublik Homosexuelle juristisch verfolgt. Das gibt Nazihelfern die Möglichkeit, Bauer unter Druck zu setzen und in seinem Verfolgungselan zu bremsen. So wird eine vermeintliche Nebensache zu einem Politikum, an der eine Karriere scheitern kann. Die versuchte Erpressung und Nötigung Angermanns, ebenfalls wegen seiner Homosexualität, lässt die Praxis aufgrund des § 175 durchscheinen.

Doch der Film hat seine Schwächen. Nicht, weil die Handlung bisweilen undurchsichtig erzählt wird; das wird durch die Leistung der Schauspieler locker kompensiert. Es ist die Frage nach dem wahren Staatsbürger, die problematisch wird. Diese wird offen gestellt, wenn Bauer seinen Vertrauten Karl Angermann (Ronald Zehrfeld) beispielsweise durch Presseberichte verunsichert fragt, ob er denn wirklich ein Feind Deutschlands sei. Subtil schwebt die idealistische Frage nach dem richtigen Staatsbürger allerdings die ganze Zeit mit.

Das hat zur Folge, dass der Film nicht mehr den gesellschaftlichen Zusammenhang der Taten der Nazis um Eichmann und Co. zum Gegenstand hat, sondern sich nur noch um den Kampf gegen die alten Nazi-Strukturen in der neuen Bundesrepublik dreht. Dies ist durchaus auch ein emanzipatives Momentum des Films, der die Schlussstrichmentalität und das aktive, institutionell betriebene Schweigen über den Nationalsozialismus einfängt. Die neue Bundesrepublik wird richtigerweise als eine mit altfaschistischen Strukturen durchsetzte bürgerliche Gesellschaft beschrieben, und der Film liefert dafür durch die Dialoge der Protagonisten Fakten. Der entscheidende Dialog zwischen Angermann und Bauer, dass selbst die Alliierten an der Verfolgung von Naziverbrechern nicht so interessiert seien, wie man (oder in dem Fall Bauer) sich das gewünscht hätte, enthält die beißende Anklage gegen internationale gesellschaftliche Strukturen, die Naziverbrechern die Flucht und das Untertauchen im Ausland ermöglichten.

Doch der Film nimmt sich dabei an verschiedenen Stellen zu sehr des Kampfes für die neue Bundesrepublik an. Er vermittelt dadurch ebenfalls eine befreiende Zäsur. Diese soll allerdings nicht das Schweigen und die Ohnmacht sein, sondern grundlegende, juristische Bedingungen haben: eine Anklage der Täter in der Bundesrepublik. Durch diese Eindimensionalität der Perspektive, ohne die notwendige Komplexität, verzerrt sich aber in der Kunstproduktion die gesellschaftliche Realität. Dem Zuschauer wird an der Stelle vermittelt, dass einzig die juristische Verurteilung nach Recht und Gesetz der wahre Umgang mit den Taten der Nationalsozialisten sei. Selbst eine juristische Verurteilung der Nazis würde jedoch das, was gesellschaftlich geschah, nicht angemessen aufarbeiten. Die gesellschaftliche Komponente der Taten der Nationalsozialisten würde dadurch nicht zum Gegenstand werden. Die Taten der Nazis aber waren keine juristisch jeweiligen Einzeltaten, sondern sie lassen sich ausschließlich in einen unmittelbaren gesellschaftlichen Zusammenhang stellen. Die Nazis waren keine gewöhnlichen Mörder, sie haben innerhalb der implementierten Gesellschaftsordnung nach 1933 noch nicht einmal etwas Illegales getan. Und genau an der Stelle beginnen die juristischen und moralischen Probleme einer wahren Aufarbeitung. Ein rechtstaatliches Gerichtsverfahren gegen Nazis anzustreben bedeutet auch immer einen juristischen Prozess, in dem von der Verteidigung eine Strategie der Rechtfertigung ausgearbeitet wird. Aber das wäre noch nicht einmal das Schlimmste: ein solcher Prozess suggeriert auch immer, dass nach einer Verurteilung so etwas wie Gerechtigkeit hergestellt sei. Angesichts dessen, was der Begriff Auschwitz repräsentiert, verbietet es sich, den Begriff von Gerechtigkeit überhaupt nur in den Mund zu nehmen. Es kann kein gerechter Umgang mit den geschehenen Morden hergestellt werden.

Es wird seit langem gerne das Bild vermittelt, die bürgerliche Gesellschaft (im Film verkörpert durch Klaußner und Zehrfeld) sei ein Feind des Faschismus. Das aber entspricht nur der halben Wahrheit. Fritz Bauer war sicherlich Bürger und Antifaschist in Einem, keine Frage. Starke bürgerliche Institutionen können selbstverständlich auch, wie momentan sichtbar in den USA, das Abrutschen eines bürgerlichen Staates in einen Faschismus verhindern. Aber grundsätzlich gerät jeder bürgerliche Staat bei der Abwehr des Faschismus an seine Grenzen. Der bürgerliche Staat ist nicht antifaschistisch per se. Der Film über Fritz Bauers Bemühungen, Eichmann nach seiner Aufspürung nach Berlin auszuliefern, stößt eine grundlegende Frage nach dem in der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Strukturen lauernden Faschismus jedoch nicht an. Im Film sind es ausschließlich persönlich an einer Verfolgung der Nazis desinteressierte Gegenspieler, die dem Faschismus in der bundesrepublikanischen bürgerlichen Gesellschaft die Stange halten. Auch das ist nicht völlig falsch, diese Personen mit jenen Interessen gab (und gibt es immer noch). Aber in einer Kunstproduktion suggeriert das eine Gefahr des Faschismus einzig durch Personen, die Faschisten sind oder werden. Die strukturelle, wesentliche Seite, kommt nicht zum Ausdruck.

Die noch viel größere Gefahr aber ist die politisch-ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Über diese schweigt der Film. Für einen Film ist das Thema wirklich schwer zu realisieren. Dialoge können sich bewusst nur aufs Thema fokussieren, wenn sie den Zuschauer nicht mit dem Nachholen von notwendigem Geschichts- und Gesellschaftswissen überfordern.

Das ist eine Zwangslage für Kunstproduktionen. Die Gefahr in der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft ist jedoch so zentral, dass ein Schweigen über die Verbindung Erklärungen und Schlüsse verfälscht. Aufgrund des Artikels 48 der Weimarer Verfassung blieb z.B. die bürgerliche Verfassung des deutschen Vorzeigenationalstaats bis zum Ende des Nationalsozialismus in Kraft. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben beschreibt das Momentum des Bürgerlichen in der faschistischen Gesellschaft eindrucksvoll: „Als die Nazis die Macht ergriffen und am 28.Februar 1933 die ‚Verordnung zum Schutz von Volk und Staat‘ erließen, die auf unbestimmte Zeit die Artikel aufhob, welche persönliche Freiheit, die freie Meinungsäußerung, das Versammlungsrecht, die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Brief-, Post-., Telegraph- und Fernsprechgeheimnis betrafen, haben sie eigentlich nur eine bereits von den vorangehenden Regierungen gefestigte Praxis weiterverfolgt.“[2]

Wird verschwiegen, dass es gesellschaftliche Voraussetzungen und Verbindungen gibt und nicht nur Personen, dreht sich die Kunstproduktion jedoch notwendig um die eigene Achse. So suggeriert man zwar, man übe eine Kritik an der Gesellschaft – letztendlich stellt man aber doch nur Phänomene möglichst real dar; was nicht unbedingt schlecht ist, wie der Film über Fritz Bauer beweist. Eine Kritik an den realen Verhältnissen muss mit einer gewissen Subtilität neben der realen Darstellung geschehen. Sie braucht sich nicht mit Details aufhalten, sondern muss der Kunstproduktion den notwendigen Raum und die Entfaltung einer generellen, emphatischen Kritik geben.

[1]http://www.taz.de/!5237901/

[2]Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002, S. 176 f.

von Bengt E. Bethmann

Einleitendes. Der Wesensbegriff der Kritischen Theorie als notwendige Kategorie objektiver Erkenntnis

Auf das, was Horkheimer und Adorno schon in der Dialektik der Aufklärung als den wesentlichen Grund des Antisemitismus bestimmen, wird heute kaum Bezug genommen: „die Verkleidung der Herrschaft in Produktion“[1]. Für Horkheimer und Adorno stehen bei der Untersuchung des Phänomens noch die wesentlichen Bedingungen des Antisemitismus im Vordergrund. Sie haben damit zum wissenschaftlichen Gegenstand gehoben, von was das soziale Phänomen moderner Antisemitismus überhaupt Erscheinung ist. Solch Vorgehen impliziert, dass etwas hinter der Erscheinung des modernen Antisemitismus steht. Über das unmittelbare Phänomen muss demnach hinaus gedacht werden, um dadurch mehr als nur das, was ist über das Phänomen herauszufinden. Denn ohne jede Wesensbestimmung wäre jede Erscheinung, jedes unmittelbare Faktum, also jedes gesellschaftliche Phänomen: eine Erscheinung von Nichts. Wird solch eine Reflexion auf den Grund des unmittelbar Seienden vernachlässigt, könnte nicht mehr bestimmt werden, durch was diese Erscheinungen als solche dem erkennenden Subjekt überhaupt erst vermittelt werden. Das müsste heißen, dass ein soziales Phänomen wie der Antisemitismus sich nicht erkennend durchdringen lässt, solange man auf ihn nur in seiner Unmittelbarkeit starrt. Trotz der verbleibenden Notwendigkeit, den Antisemitismus auch als unmittelbaren Istzustand in der bürgerlichen Gesellschaft ernst zu nehmen – ohne Material keine Theorie, weil kein Gegenstand! – nehme ich mit dem hiesigen Vortrag von solch unmittelbarem Material Abstand. Es geht mir also nicht um eine faktische Darstellung des Phänomens, sondern um die wesentlichen Bedingungen des Seienden. Das kündigt ja auch der Titel bereits an.

Ein Beispiel für eine Wesensfeindschaft ist der Positivismus. Der Positivismus interessiert sich nicht für das, was hinter den Erscheinungen steht und diese hervorbringt. Der Positivismus hat eine lange Tradition. Er denunziert bereits den Kantischen Begriff des Dings an sich als einen obsoleten Substantialismus, als Überbleibsel des hinterwäldlerischen philosophischen Realismus. Da der Kantische Begriff des Dings an sich einen gewissen Interpretationsspielraum für eine mögliche wesentliche ‚Hinterwelt’ der Dinge offen lässt, gilt er den Positivisten als wilder Spekulationsbegriff. Die Positivisten bezweifeln, dass die Dinge mehr sind, als wie sie dem Subjekt erscheinen.

Eine antikantische, antisubstantialistische Interpretation von Phänomenen findet man auch in der Antisemitismusforschung. Werner Bergmann, Professor am Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) in Berlin, fasst den vom Wesensbegriff gereinigten Antisemitismusbegriff wie folgt zusammen: „Gegenüber einer substantialistischen Erklärung wird in der folgenden Darstellung (…) eine funktionalistische bevorzugt, die die Wandlungen der Ursachen, Ziele und Inhalte von Judenfeindschaft in den einzelnen Epochen und Regionen herausarbeitet und auf konkrete gesellschaftliche Konfliktlagen und Interessen zurückzuführen sucht, die nicht notwendig mit dem Verhalten und der Position der jüdischen Minderheit zusammenhängen müssen.“[2] Bergmann kritisiert den ‚Substantialismus’ in den Erklärungen zum Antisemitismus, weil dieser ein ontologisch substantielles Wesen als eine völlig unvermittelte metaphysische Wesenheit konzipiert habe. Er schreibt in seiner es auf die Bestsellerlisten geschafften Geschichte des Antisemitismus, dass ein Substantialismus die fixe Unterstellung von angeblich unveränderlichen Gegebenheiten bedeute. Damit interveniert er durchaus zu Recht gegen eine unreflektierte Substantialisierung von Tätern und Opfern. Diese kennt man von Historikern wie dem Amerikaner Daniel Jonah Goldhagen. Jener erklärt die Virulenz des Antisemitismus mit einer Kontinuität des Gegenstands des Judenhasses: Spätestens seit Luther sind die Deutschen für ihn Antisemiten, kein Wunder also, dass sie es heute noch seien.[3] Ebenfalls substantialistisch sind die Erklärungen der Geschichte aus dem rechten Lager der Historiker in Deutschland. Ernst Nolte hat, als handfester Nationalist, kein Problem damit, mit Hegel die Geschichte als Geschichte von Völkern und Volksgeistern zu erklären. So spricht er, wie auch andere Nationalisten, von substantiellen nationalen Eigenheiten der nationalen Kollektive, die mit ihren jeweiligen Eigenschaften als Agenten der welthistorischen Kämpfe aufgefasst werden. Eine solch vermeintlich ermittelte Identität lässt allerdings alles vermissen, was diese Kollektive aus bestimmten Gründen als erzwungene kollektive Identitäten offenbart: antagonistische Klassen oder unterschiedliche Stände, in die sich alle Kollektive der Nationalisten aufspalten lassen und an denen sich auch die erzwungene Identifizierung der Subjekte mit dem großen Ganzen, mit den angeblich homogenen Kollektiven, abzeichnet. Der von Bergmann kritisierte Substantialismus in den Sozialwissenschaften unterstellt gesellschaftlichen Kollektiven jedoch diese fixen und tradierten Eigenschaften, die es, wie Bergmann zu recht anführt, nicht gibt.

Doch Bergmanns Kritik, dass die falsche Auffassung von Geschichte aus der falschen Substantialisierung kommt, ist trotz ihrer richtigen Stoßrichtung gegen falsche nationalistische, rechte Identitätsstiftungen problematisch. Anders als Bergmann es in seiner oben zitierten Darstellung aus der Geschichte des Antisemitismus formuliert, ist die Kritik des Wesens- oder Substanzbegriffs für eine Kritik an den platten Positionen des sozialwissenschaftlichen Substantialismus nicht zwingend. Wenn Bergmann in seiner oben zitierten Kritik zwar richtigerweise auf die Falschheit eines ewigen Antisemitismus durch die unvermittelte Metaphysik des Opfers anspielt, verabschiedet er sich damit aber von der Erkenntnis, dass es eine substantielle Gesetzmäßigkeit hinter der Erscheinung des Antisemitismus oder auch sonstigen gesellschaftlichen Erscheinungen gibt. So begreift er in der Folge den Wesensbegriff undifferenziert, weil für ihn die falsche Substantialisierung der Rechten zu einer Ablehnung des Wesensbegriffs im Allgemeinen führt.

Aber das geht zu schnell. Es kommt auf einen differenzierten Umgang mit dem Begriff des Wesens oder der Substanz an, um weiterhin auch eine wesentliche Erklärung der Phänomene leisten zu können, wie man sie bei Adorno findet. Für Adorno sind Wesensgesetze hinter den Erscheinungen Gesetzmäßigkeiten, die die objektive Möglichkeit der gesellschaftlichen Erscheinungen sind. Sie sind deshalb auch kein metaphysischer Restbestand, der sich umstandslos wie ein schmerzender Appendix ohne negative Wechselwirkungen auf das Ganze chirurgisch entfernen ließe. Adorno hält deswegen, wie die gesamte Kritische Theorie, am Begriff des Wesens auch und gerade in Bezug auf die gesellschaftlichen Gegenstände und ihrer Erkenntnis fest. Diese hinter den Erscheinungen wirkenden Wesensgesetze seien sogar „wirklicher als das Faktische, in dem sie erscheinen und das über sie betrügt. Aber sie werfen die hergebrachten Attribute ihrer Wesenhaftigkeit ab. Zu benennen wären sie als die auf ihren Begriff gebrachte Negativität, welche die Welt so macht, wie sie ist.“[4]

Als auf den ‚Begriff gebrachte Negativität’ wird der Wesensbegriff durch die kritische Unterscheidung von Wesen und Erscheinung für Adorno zu einem gesellschaftlichen „Unwesen“[5]. Weil Wesen gleich Unwesen ist, ermöglicht dies eine Kritik dessen, was als gesellschaftliche Erscheinung ist. Das soziale Phänomen geht für Adorno somit aus wesentlich Falschem hervor: aus dem Subjekt gegenüber unmittelbar Feindlichem. Das Falsche, Feindliche kann aber als falsche Zwecke Verwirklichendes nur in den gesellschaftlichen Strukturen selber liegen. Es kann nicht aus der bloßen Erscheinung herausgezogen oder sogar noch einfach mit ihr identifiziert werden: „Eine dialektische Theorie der Gesellschaft“, so Adorno, „geht auf Strukturgesetze, welche die Fakten bedingen, in ihnen sich manifestieren und von ihnen modifiziert werden. Unter Strukturgesetzen versteht sie Tendenzen, die mehr oder minder stringent aus historischen Konstituentien des Gesamtsystems folgen.“[6]

Adornos Gedanken zum Wesen wurden von seinen Schülern dann weitergeführt. Die Wesensbestimmung der so mannigfaltigen Erscheinungen fürs Subjekt verliert sich für Hans-Jürgen Krahl beispielsweise nicht wie ein inhaltsloser Schatten in einer von Bergmann unterstellten, unvermittelt ontologischen metaphysischen Wesenheit.[7] In Bezug auf die Rettung des Wesens als Kategorie der Objektivität der Erkenntnis von den Gegenständen heißt es in Zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse, dass „dem Wesen (…) keinerlei unendliche Realität“[8] zukomme. Damit wird die Wesensbestimmung zu einer in „die Sphäre endlicher Seinsbestimmungen“[9] fallenden. Der Wesensbegriff steht so also gegen die anthropologisch fixen Substantialisierungen der Historiker, aber auch gegen eine komplette Ablehnung des Begriffs durch Bergmann.

Krahl gibt der alten metaphysischen Unterscheidung von Wesen und Erscheinung so eine neue, kritische Gestalt. Wesen wird für ihn zum Wahrheitskriterium von Aussagen über die Dinge. Krahl gibt der Unterscheidung von Wesen und Erscheinung aus Gründen der Objektivität der Urteile statt. Sein Festhalten am Wesensbegriff verweist auf Marx. Dieser schreibt im dritten Band des Kapitals, dass „alle Wissenschaft (…) überflüssig“ sei, „wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen (…)“[10]. Auch für Marx lässt sich das Wesen der gesellschaftlichen Erscheinungen also nicht einfach in seine blanke, für die subjektive Sinnlichkeit wahrnehmbare Erscheinung auflösen. Eine solche Identifikation von Wesen und Erscheinung würde eine wirkliche, objektive Ergründung von Phänomenen nicht mehr zulassen.

Der Positivismus in der Wissenschaft ist eine logische Konsequenz des Verlusts von Objektivität und Wahrheit, der die Verbannung alles Wesentlichen aus der Theorie vorantreibt. Er verbannt ins Reich des Fabelhaften, was wirklich hinter der der subjektiven Erfahrung zugänglichen sozialen Erscheinung als deren Hervorbringung steht – und nicht schon diese selbst ist. Ohne also die vorausgesetzte Substantialität anzunehmen, greift eine positivistische Erklärung von gesellschaftlich seienden Phänomenen auf kein Prinzip der Genesis des Phänomens mehr zurück. Das aber steht wider die Arbeit mit dem Begriff und damit wider die Erkenntnis der Sachen: „Tatsächlich ist der Begriff“, so Adorno in der Negativen Dialektik, „insoweit der zureichende Grund der Sache, als die Erforschung zumindest eines sozialen Gegenstandes falsch wird, wo sie sich auf Abhängigkeit innerhalb seines Bereichs begrenzt, die den Gegenstand begründeten, und dessen Determination durch Totalität ignoriert. Ohne den übergeordneten Begriff verhüllen jene Abhängigkeiten die allerwirklichste, die von Gesellschaft, und sie ist von den einzelnen res, die der Begriff unter sich hat, nicht adäquat einzubringen. Sie erscheint aber einzig durchs Einzelne hindurch [sic!], und dadurch wiederum wandelt der Begriff sich in der bestimmten Erkenntnis.“[11]

Die Erkenntnis des sozialen Gegenstands wird also für Adorno falsch, sobald man dessen Determination einer durch ihn hindurch wirkenden Totalität verleugnet. Diese Totalität ist die objektiv erkennbare Gesetzmäßigkeit hinter den sozialen Erscheinungen – und wenn man so will: die erkennbare metaphysische Grundlage aller sozialer Phänomene. Die Totalität ist dabei mehr als eine bloße Agglomeration dessen, was unter sie subsumtionslogisch addiert wird. Sie ist nicht einfach extensional. Adorno bestimmt sie intensional, was bedeutet, dass sie immer auch mehr als eine nur umfangslogische Bestimmung des Daseienden ist. Die Totalität verweist deshalb auf die objektive Bedingung der Möglichkeit der Erscheinung, die sich aus den einzelnen zusammengefassten Bezeichnungen von sozialen Phänomenen nicht erkennen lässt. Sie verweist insofern auf ein hinter den zusammengetragenen Fakten liegendes Prinzip ihrer Existenz.

Dieses Prinzip der Existenz der Fakten ist selbst kein empirischer Fakt. Es ist ein objektives Moment hinter den Fakten, was dem Subjekt a prima vista nicht offensichtlich ist. Bei der Vermittlung von Subjekt und Objekt ist deshalb die Seite der Objektivität, die Seite des Ansich als dem Subjekt gegenübertretende ontologisch hochzuhalten. Das Subjekt wird nur dann nicht zu dem Faktor, der alle Objektivität konstruktivistisch aus sich heraus schafft, wenn die so genannte autonome „Präponderanz des Objekts“[12] durchs Subjekt (an-)erkannt wird. Deshalb spricht Adorno vom notwendig ontologischen Moment innerhalb des Erkenntnisprozesses, dem eine Dignität innerhalb dieses Prozesses zukommt. Aber dieses Moment darf wiederum auch nicht aus dem dialektischen Erkenntniszusammenhang gerissen werden: „Soweit bedarf es eines ontologischen Moments, wie Ontologie kritisch dem Subjekt die bündig konstitutive Rolle aberkennt, ohne daß doch das Subjekt durchs Objekt gleichwie in zweiter Unmittelbarkeit substituiert würde.“[13]

Das Kapitalverhältnis als Wesen des modernen Antisemitismus – aus dem er aber nicht notwendig folgt

Doch was verursacht die sozialen Fakten als Resultate subjektiver Handlungen, was steht als deren objektive Möglichkeit als Prinzip hinter ihrer Erscheinung? Was macht überhaupt den Blick auf prinzipielle gesellschaftliche Strukturgesetze so wichtig, wenn von sozialen Phänomenen gesprochen wird?

Zunächst einmal verdankt sich das Handeln der Subjekte, abstrakt besehen, also ohne eine konkrete Gesellschaftsform gleich mit anzuführen, der arbeitstechnischen Vermittlung mit der Natur, der „sich das Leben der Menschen (…) verdankt“[14]. Alles gesellschaftliche Leben verdankt sich dem rationalen Eingriff des Subjekts in den Naturzusammenhang. Alle Kultur geht darauf zurück. Deshalb ist sie das Resultat der Distanzierung der Menschen von der ersten Natur. Weil die Reproduktion jedes Einzelnen auf Seiten der im Verein in den Naturzusammenhang eingreifenden Gesellschaft liegt, liegt die Möglichkeit der Selbsterhaltung für das Subjekt zweifelsohne auf Seiten der kulturbildenden Gattung und nicht bei ihm selbst. Für seine eigene Reproduktion könnte ein vereinzeltes Subjekt nicht sorgen. Deshalb ist die rational organisierte Gesellschaft alleiniges Subjekt individueller Selbsterhaltung. Als biologische Wesen sind die Subjekte um ihres Überlebens Willen gezwungen, sich die sie als Umwelt umgebenden natürlichen Gegebenheiten durch eine gemeinsame Bearbeitung dienlich zu machen.

Die einzelsubjektive Selbsterhaltung ist von der allgemeinen Gattung und deren rationaler Organisation des Stoffwechsels mit der Natur unmittelbar abhängig. Nur durch den organisierten Stoffwechsel mit der Natur und damit vermittels der Abhängigkeit von den jeweiligen Formvoraussetzungen der konkreten Gesellschaft und ihren kulturell bestimmt organisierten Eingriffen in den Naturzusammenhang lässt sich die Reproduktion des Einzelnen realisieren. Dabei ist gleichgültig, ob sich der Einzelne subjektiv mit dieser konkreten Organisation der Kulturprodukte anfreunden kann oder nicht: „Die Abschaffung des Leidens, oder dessen Milderung hin bis zu einem Grad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen, dem keine Grenze anzubefehlen ist, steht nicht bei dem Einzelnen, der das Leid empfindet, sondern allein bei der Gattung, der er dort noch zugehört, wo er subjektiv von ihr sich lossagt und objektiv in die absolute Einsamkeit des hilflosen Objekts gedrängt wird.“[15]

Weil sich das einzelne Individuum von der objektiven Gesellschaft aus Reproduktionsgründen nicht lösen kann, wird seine Reproduktion innerhalb der Gesellschaft zum Zwang. Die soziale Individuation des Subjekts ist ein Zwang in der immer bereits organisierten Gesellschaft. Diese objektive Einbindung bezeichnet Adorno als einen restontologischen Vorrang des Objekts: die Naturwüchsigkeit der Gesellschaft durch präformierende, institutionalisierte soziale Prozesse, die jedem subjektivistischen Konstruktivismus des Seins widersprechen. Die zweite Natur gleicht dadurch der ersten Natur. Für das einzelne Subjekt ist sie ein unumstößlicher integrativer Zwangszusammenhang, vor dem es kein Entkommen gibt.

Jedes Handeln und jeder sedimentierte soziale Gegenstand und Zusammenhang weist damit durch seine Bedingung der Möglichkeit in die Dimension der ihn konstituierenden Grundlage notwendig zurück: die rational organisiert in den heteronomen Naturzusammenhang eingreifende, kulturschaffende Gesellschaft. Der rational organisierte Eingriff in den Naturzusammenhang erweist sich somit ausnahmslos als existentielle, unmittelbare Grundlage aller sozialer Phänomene, weil er jede Existenz menschlichen Lebens erst ermöglicht. Sofern kein gesellschaftliches Phänomen und auch keine Gesellschaft ohne mit dem zweckmäßigen, selbsterhaltenden Eingriff in die Naturzusammenhänge vermittelt seiend zu denken ist, wäre ohne das gesellschaftliche fundamentum einer in den Naturzusammenhang eingreifenden Gemeinschaft überhaupt keine soziale Erscheinung möglich. Nach Adorno gibt es deshalb „kein soziales Faktum, das nicht durch Gesellschaft determiniert wäre.“[16]

Demnach kann auch der Antisemitismus nicht ohne die sich über den Eingriff in den Naturzusammenhang reproduzierende Gesellschaft als Bedingung seiner Möglichkeit existieren. Die Erklärung des gesellschaftlichen Phänomens Antisemitismus kann deshalb nicht von diesem rational organisierten Eingriff in den Naturzusammenhang als der Notwendigkeit des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses getrennt werden.

Diese dialektische Vermittlung von rational organisierter gesellschaftlicher Reproduktion und sozialen Phänomenen verweist deshalb die Bestimmung des Antisemitismus als gesellschaftlichen Gegenstand notwendig an das konkrete Wie der gesellschaftlichen Organisation der allgemeinen und in sich rationalen Reproduktion von Gesellschaft. Das macht den objektiven gesellschaftlichen Bezug des sozialen Phänomens aus. Damit wird es, durch die Vermittlung mit dem vernünftig organisierten Eingriff in den Naturzusammenhang, auch von einer bloß bodenlosen Chimäre getrennt. Käme dem sozialen Phänomen nicht eine immanent rationale Erklärung zu, wäre es ein molluskenhaft irrationales Phänomen, das jeder weiteren wissenschaftlichen Bestimmung enthoben wäre. Das Gegebene ist aber kein reiner Irrsinn. Dem Phänomen ist ein rationaler Maßstab immanent, der auf die diskursiven Zwecke der Erscheinung in der objektiven Gesellschaft hindeutet. Ohne eine solche immanente Rationalität könnte die Erscheinung mit keinem vernünftigen Maßstab kritisiert werden. Die Vernunft hätte ohne vernünftigen Inhalt der Sache keinen Inhalt, an dem sie kritisch ausgeübt werden könnte. Eine Kritik des Wesens der sozialen Phänomene könnte diese gar nicht erst als Unwesen kritisieren. Die Kritik, wenn sie nicht nur Fantasterei oder Utopie ohne jeden sachlichen Grund sein möchte, die dieses gesellschaftliche Unwesen transzendierte, kann nicht allein aus Einbildungskraft oder einer nur reinen Vernunft kommen: sie muss Ergebnis einer rationalen Durchdringung und Gestaltung des tatsächlichen Materials sein. Solange also die Kritik an gesellschaftlichen Phänomenen mehr als nur ein leeres Versprechen sein will, muss die immanent rationale Zweckbezogenheit des sozialen Gegenstands das Fundament bilden, mit der der soziale Gegenstand in seiner Existenz erklärt wird. Alle Erscheinungen und damit auch ihre Zwecke (ihre Rationalität) fundieren demnach im rational organisierten Reproduktionsprozess der Gesellschaft.

Der zum Überleben der Einzelnen notwendige Reproduktionsprozess der Gesellschaft findet in Form eines ganz bestimmten, konkreten Arbeits- und Reproduktionsprozess statt. Dieser zeigt sich für die Distanzierung der Subjekte von den unmittelbaren Naturzusammenhängen verantwortlich. Er ist historisch und damit wandelbar. Die vorerst nur abstrakte Bestimmung, dass er zum Überleben der Gattung Mensch notwendig sei, verweist deshalb auch auf die Frage, wie dieser Produktionsprozess konkret gestaltet und organisiert ist.

Der Feudalismus begrenzte die im Entstehen begriffene bürgerliche Ökonomie noch durch die noch persönliche Herrschaftsform.[17] Die Amerikanische und Französische Revolution 1776 bzw. 1789 sprengen diese Ketten dann. Konkret setzt die bürgerliche Revolution eine neue Herrschaftsform frei, die die gesellschaftliche Herrschaft hinter allgemeinen, die Privilegienrechte abschaffenden Rechtsformen verschleiert. Herrschaft scheint zwar nicht mehr zu existieren, da allen Mitgliedern über die installierten Rechtsbegriffe vermittelst der garantierten Verfassung allgemeine Rechte zukommen. Denn nach der gewaltsamen Freisetzung von ihren Möglichkeiten der eignen Reproduktion gelten nämlich alle Subjekte der bürgerlichen Gesellschaft als Wareneigentümer gleichermaßen. Völlig abstrahiert von allem konkreten Material kommen ihnen die selben Rechte als Eigentümer von Waren zu. Gleichgültig ist, ob das Rechtssubjekt dabei Eigentum in Form von Ware an Produktionsmitteln besitzt, oder ob es die Verfügbarkeit über die Produktionsmittel gewaltsam verloren hat und darum dazu gezwungen ist, als doppelt freier Lohnarbeiter seine Ware Arbeitskraft auf dem Markt anzupreisen. Da seit den gewaltsamen Aneignungen der Produktionsmittel durch nur eine Klasse diejenigen Subjekte ohne zur eigenen Reproduktion mögliches Material stehen gelassen werden (denen vorher die Verfügung über dieses Material überlassen wurde), ist die Unterstellung gleicher gesellschaftlicher Voraussetzungen aller ein Schein. Diese willkürliche, gewaltsame Aneignung von Produktionsmitteln ist – freilich post festum– in legale Gesetze des diese garantierenden bürgerlichen Staats gegossen. Dadurch wird die Freisetzung von Produktions- und Reproduktionsmitteln durch Wenige von Vielen für die Zeit des Bestehens des bürgerlichen Staats verlängert. Die materiellen Unterschiede werden mit dem staatlich garantierten, von jedem Inhalt abstrahierenden formellen Recht also nicht etwa beseitigt. Mithilfe der Abstraktion in der Rechtsform wird das Privateigentum an Produktionsmitteln für Wenige erst juristisch wasserdicht. Die universale Abstraktion von allem Material durch die staatlich geltenden Rechtsbegriffe bestätigt und verlängert die nach dem Akt ihrer Aneignung offensichtlichen materiellen Unterschiede von Eigentum. Inhaltlich ist die juristische Entfremdung von den Reproduktionsmitteln durch die allgemeine Rechtsform für die erweiterte Unterjochung der materiell Eigentumslosen verantwortlich.So ist das allgemeine, vom Staat garantierte Recht unbedingt als eine vom Reichtum ausschließende Schaffung von Klassenunterschieden aufzufassen. Die Klassenunterschiede rühren von den Unterschieden im konkreten Inhalt des jeweiligen Eigentums her, das sich immer aufs Gesamtkapital bezieht und welches überhaupt erst die Klassen als Klassen reflexiv aufeinander bezieht. Die reflexiven Klassenunterschiede zu exerzieren ist das Interesse der scheinbar interesselosen Abstraktion der garantierten Eigentumstitel von allem Material.Der Zweck der historischen Setzung von Eigentumstiteln ist die Schaffung von elitärem Privateigentum an Produktionsmitteln für die dadurch herrschende Klasse bei gleichzeitiger Freisetzung einer Arbeiterklasse. Ohne die Selbstverdinglichung als Ware fehlt dieser die Möglichkeit, sich wie die Knechte noch selbst zu reproduzieren.

Jenes Subjekt, das neben seiner Arbeitskraft keinerlei andere Ware als Eigentum auf dem Markt geltend machen kann – die der Möglichkeit nach alle Subjekte zur Vernutzung anbieten dürfen – hat diese Ware Arbeitskraft deshalb auf dem Markt zu eigenen Reproduktionszwecken zu verdingen. Es kann sich nur reproduzieren, solange es seine Ware Arbeitskraft auf dem Markt denjenigen Produktionsmittelbesitzern feilbietet, die ihm die eigene Reproduktion der Möglichkeit nach in Aussicht stellen. Passiert dies nicht – im schlimmsten Fall würde das Subjekt verhungern. Der Verkauf von Waren auf dem Markt unterliegt dabei einer beständigen Verwohlfeilerung, also auch die der Ware Arbeitskraft. Diese wird auf dem Markt zu ihrem Tauschwert von einem Eigentümer an Produktionsmitteln zwecks der Verwohlfeilerung seiner mithilfe der Ware Arbeitskraft produzierten Waren gekauft. Der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft darf von ihrem Käufer wie bei jeder anderen Ware angewendet werden. Das spezifisch Eigentümliche der Ware Arbeitskraft gegenüber jeder anderen Ware ist, dass diese über die Anwendung ihres unmittelbar physischen Gebrauchswerts mehr Wert schafft, als zu ihrer physischen Reproduktion notwendig ist. Sie wird also physisch vernutzt, um dem Produktionsmitteleigentümer einen besonderen Vorteil zu verschaffen. Er wendet den Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft an, um seinen Produkten über die gesetzlich garantierte, der Ware Arbeitskraft ausgepressten Mehrarbeit einen Mehrwert hinzufügen zu lassen – den auf dem Markt über die Zirkulationssphäre realisierbaren Gewinn. Die Mehrarbeit ist durch die installierten Rechtsformen der bürgerlichen Gesellschaft genau so wenig sichtbar wie die rechtlich installierten und juristisch verlängerten Klassenverhältnisse sinnlich wahrnehmbar sind. Das ist Teil der Ideologie der Gerechtigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft.

Beide Eigentümer, also Arbeiter und Kapitalist, stehen bei der Verwertung ihres Eigentums in der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren jeweiligen Klassenmitgliedern in heftiger Konkurrenz. Alle Einzelkapitale erweisen sich zwar durch ihre technische Abhängigkeit voneinander affirmativ aufeinander. Der Produktionsmitteleigentümer bleibt jedoch keiner, bleibt er nicht konkurrenzfähig. Durch die Konkurrenz um den begrenzten Marktmagen sind Produktionsmitteleigentümer negativ aufeinander bezogen. Der Lohnarbeiter hingegen kann sich nicht reproduzieren, solange er sich nicht gegen andere Lohnarbeiter auf dem Markt durchsetzt. Alle Lohnarbeiter sind zwar durch die rationalisierte Arbeitsteilung affirmativ aufeinander, aber auch durch Konkurrenz um die ständig fehlenden Arbeitsplätze negativ aufeinander bezogen. An Arbeitsplätzen mangelt es im Kapitalismus systematisch: „Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung (…) in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eignen relativen Überzähligmachung. Es ist dies ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Populationsgesetz, wie in der Tat jede besondre historische Produktionsweise ihre besondren, historisch gültigen Populationsgesetze hat.“[18] Die systematische relative Überzähligmachung großer Teile der Bevölkerung, die notwendige Arbeitslosigkeit der industriellen Reservearmee, drängt die Eigentümer an Nichts als ihrer Ware Arbeitskraft also zur Konkurrenz, während Produktionsmitteleigentümer zur systematischen Verwohlfeilerung ihrer Produkte gezwungen werden, um ihre Konkurrenz auf dem Markt zu unterbieten und dadurch auszustechen.

Insofern versuchen alle Subjekte gegenüber den Konkurrenten sich einen Vorteil zu verschaffen, um die eigene Reproduktion unter kapitalistischen Klassenverhältnissen zu realisieren. Ihnen sind, am eigenen Leib sinnlich erfahrbar, die anderen Mitbewerber um die Reproduktion immer zu viel. Da man neben der darin liegenden Irrationalität jedoch nicht nur juristisch, sondern wohl auch körperlich nicht in der Lage sein dürfte, alles und jedes zu seinen Gunsten zu vernichten um sich im Kampf um die eigene Reproduktion ein wenig Ruhe zu verschaffen, rekurriert man auf ausgewählte, historisch mit Makeln behaftete Gruppen. Diese werden mit dem Ziel des Konkurrenzvorteils diffamiert. Die Rechtssubjekte werden insofern aus Rechts- und Ökonomiegründen in der bürgerlichen Gesellschaft zu Antisemiten und Rassisten – sie müssen dies aber nicht.

Im modernen Antisemitismus kommt dabei ein Konglomerat an Material zur Geltung, dass das ökonomische Konkurrenzvorteilsgesuch mit historisch überbrachten Gerüchten über Juden verbindet. Deshalb ist es auch keineswegs gleichgültig, dass insbesondere Juden im Fadenkreuz des Hasses stehen. Die Opferrolle wurde ihnen gewissermaßen historisch übergestülpt.[19] Weil Juden seit den mittelalterlichen Konzilien keinen Grund und Boden besitzen durften, blieb ihnen im Feudalismus allein die Sphäre der Zirkulation, um ihre jeweilige Reproduktion zu realisieren. Das heißt, allein Geschäfte abseits der Produktion wie der Finanzsektor, Handel etc. waren für Juden zugänglich. Die Juden wurden so zu Vermittlern zwischen Herrschaft und Christen, die Grund und Boden besaßen. Häufig übernahmen die Juden administrative Aufgaben für den Adel, um sich einen Platz in der feudalistischen Gesellschaft zu sichern. Diese Bankgeschäfte für den feudalistischen Adel oder Zinseintreibungen für die Herrschaft vor allem im Zarenreich, dem Ursprungsland des internationalen antisemitischen Bestsellers der Protokolle der Weisen von Zion, vermittelten den Knechten ein bestimmtes Bild von den Juden als Herrscher oder Strippenzieher. Dieses Bild transportiert sich in die bürgerliche Gesellschaft und wird ein zentrales Moment des modernen Antisemitismus. In der bürgerlichen Gesellschaft kommt es dann durch die Verallgemeinerungen und Verschleierungen von nicht notwendiger Arbeit zu Reproduktionszwecken und der Ubiquität der Zirkulationssphäre, der man als Rechtssubjekt unmittelbar ausgesetzt ist, zu antisemitischen Vorstellungen. Man vermutet den Juden als Drahtzieher der gesellschaftlichen Veränderungen und als Profiteur dieser. Durch die Vermittlung über die Zirkulation wird die tatsächliche Herrschaft des ökonomischen Systems verschleiert. In der Zirkulationssphäre wird immer nur der Schnitt realisiert, der in der kapitalistischen Produktion über die erzwungene Mehrarbeit durch den Äquivalententausch gemacht wird. Das Finanzkapital scheint deshalb, wenn es nicht sogar als alleinige Ausbeutungsmacht gilt, das produktive Kapital zu etwas zu drängen, was diesem eigentlich fremd sei. Diese falschen Auffassungen neben den handfest antisemitischen von schaffendem und raffendem Kapital kennt man aus der Ideologie des Nationalsozialismus. Nur mittels emphatischer Reflexion kann man der Systematik der bürgerlichen Produktionsweise und damit der tatsächlichen gesellschaftlichen Herrschaft beikommen. Man kann sie nicht einfach sinnlich wahrnehmen. Antisemiten sehen die gesellschaftliche Herrschaft genau so wenig als eine systematische eines nahezu automatischen Subjekts, der man als atomisiertes individuelles Subjekt nicht beikommt. Sie rufen nach Verantwortlichen für jene sichtbare Misere, die das kapitalistische System allerorten hinterlässt. Sozialdemokraten und kleinbürgerliche Intellektuelle wollen bei gleicher eindimensionaler Kritik Banker und Vertreter der Zirkulationssphäre in die Pflicht nehmen, Antisemiten sehen in diesen Funktionen eine identifizierbare Gruppe: Juden. Der Vorwurf etwa, dass der Jude lieber ein raffgieriger Finanzspekulant sei als ein richtiger Arbeiter, fällt auf die vermeintlich sichtbare Sphäre der Ausbeutung in der Zirkulation zurück. Der Antisemit ist deshalb, wie schon Simmel bemerkt, kein Geisteskranker, sondern ein normaler Bürger – wenn auch zugegebenermaßen ein kreativerer Kopf als sein sprödes Gegenüber, der die inhaltlichen Bestimmungen der Ökonomie als explizit jüdische Ökonomie nicht mitmacht, aber formell zu den selben falschen Urteilen gelangt, wenn er Banken und Banker in die steuerliche oder gesellschaftliche Pflicht nehmen möchte. Der Antisemitismus ist insofern ein Resultat falscher Vorstellungen von Ökonomie und Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft. Auch wenn es in der bürgerlichen Gesellschaft formell, weil die Rechtsformeln keine identifizierbare Gruppe mehr ausmachen, keinen Antisemitismus mehr gibt; der moderne Antisemitismus wird trotz dieser juristischen Gleichgültigkeit gegen jeden Unterschied (solange es nicht der des Passes ist) systematisch aus historischen Gründen virulent. Antisemitische Vorstellungen sind insofern gesellschaftliche Vorstellungen, die in der Systematik und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft entstehen und aus ihr heraustreten. Sie rekurrieren auf die kapitalistische Systematik und sind deshalb nicht außergewöhnlich.

Mit dem Vorwurf, Verursacher des gesellschaftlichen Untergangs zu sein, wirft man Juden auch noch die Illoyalität gegenüber dem Staat und damit der kapitalistisch organisierten Allgemeinheit vor. Unterstellt wird ihnen, dass sie, anstatt ordentlich arbeiten zu gehen, sich lieber am staatlichen Gemeineigentum bereichern. So denunziert man sie als gesellschaftlich verzichtbares, antinationales Konkurrenzobjekt, ohne das die Gesellschaft befriedet wäre. An der Stelle geben sich der moderne Antisemitismus und der bürgerliche Nationalismus die Klinke in die Hand. Die Diffamation der Juden als der nationalen Gemeinschaft Nichtzugehörigen macht sie zu antinationalistischen Feinden im Inneren. Da der Jude zudem Lobbyismus zu seinen Gunsten betreibe, also die Politik wenig ehrenhaft nur zu seiner persönlichen Bereicherung benutze und die Medien genauso wie die Kultur durch seinen unsichtbar-sichtbaren Einfluss[20] zu seinen Gunsten umschreibe, sei er als bösartiges Geschwür aus dem ehrenwerten Volkskörper zu entfernen.

Das bindet den modernen Antisemitismus affirmativ an den Begriff des Allgemeinwohls[21]. Die leise Ahnung der Antisemiten, dass das Allgemeinwohl nur dem konkreten Zweck des reibungslosen Ablaufs des reflexiven Kapitalverhältnisses dient, und damit auch die materiellen Eigentums- und Konkurrenzverhältnisse nach der gewaltsamen Aneignung zu verlängern, und nicht die Bedürfnisse der Einzelnen garantiert, mündet in einer empörten, substanzlosen Diffamation an vermeintlich das System exerzierenden Juden.[22] Das Gemeinwohl ist insofern nur ein anderer Ausdruck für die über die staatlichen Institutionen erzwungene Mehrproduktion und des daraus folgenden Mehrwerts für die Eigentümer an Produktionsmitteln. Dass Juden den vermeintlich eigentlichen Zweck, die Erfüllung der Bedürfnisse aller, usurpieren, ist nur die verkürzte Erklärung der kapitalistischen Misere durch die, die sich mit Ökonomie und Geschichte nicht auseinandersetzen konnten oder wollten.

Die Konkurrenz um die Reproduktion bestimmt den Inhalt des notwendig falschen Bewusstseins des Antisemiten, nicht das falsche Bewusstsein seinen Inhalt

 Die zwei sich an der Neuen Marx Lektüre orientierenden Autoren Moishe Postone und Stephan Grigat sind sich darin einig, dass Antisemitismus und bürgerliche Produktionsweise in notwendigem Zusammenhang zueinander stehen. Der Antisemitismus werde aus seiner hinreichenden Bedingung, dem Kapitalismus gestiftet. Grigat schreibt: „Insofern ist der Antisemitismus nichts einfach Hinzutretendes, sondern sowohl theoretisch als auch historisch mit dem Waren-, Geld- und Kapitalfetisch Zusammenhängendes.“[23] Ebenfalls gegen jedes historische Argument gewendet formuliert Postone in Antisemitismus und Nationalsozialismus, dass die „abstrakte Herrschaft des Kapitals“ die Menschen in ein „Netz dynamischer Kräfte“ verstricke. Diese Kräfte würden, „weil (…) nicht durchschaut (…), in Gestalt des ‚Internationalen Judentums’ wahrgenommen.“[24]

Die notwendige Konsequenz der Ableitung von Ökonomie und erscheinendem Antisemitismus sei nach Grigat deshalb offensichtlich, weil der Antisemitismus nichts einfach Hinzutretendes sei. Das führt zum Urteil Grigats, dass allein in der Erklärung der kapitalistischen Gesellschaft die Begründung des Phänomens Antisemitismus liege: „Erklärt werden kann nicht mehr der Antisemitismus, sondern nur mehr die Gesellschaft, der er strukturell (!) innewohnt.“[25] Weil der Antisemitismus der Gesellschaft strukturell innewohne, würde sich das antisemitische Bild von den Juden in der bürgerlichen Gesellschaft auch „aus sich selbst“[26] erklären.

Grigat und Postone wollen den Fetischbegriff als einziges materialistisches Moment der Erklärung von Kapitalismus und damit auch des Antisemitismus akzeptieren. Der Fetisch wird nach Marx dem falschen Bewusstsein von den gesellschaftlichen Verhältnissen gleichgesetzt. Für Grigat sei der Fetischbegriff nicht nur die Überwindung des Traditionsmarxismus und der inzwischen unzureichend gewordenen Klassenbegriffe: „Die Geschichte erscheint so nicht mehr wie im traditionellen Marxismus vorrangig als eine Geschichte von Klassenkämpfen, sondern als eine Geschichte von Fetischverhältnissen.“[27]

Allein der zentrale Begriff des Fetischs, die Marxsche Erkenntnistheorie aus dem ersten Kapitel des Kapitals, kann für Grigat und Postone die Universalität des Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft begründen. Über die gesellschaftliche Totalität des sozialen Phänomens gebe allein die Marxsche Erkenntnistheorie Aufschluss.[28] Der moderne Antisemitismus sei zur allgemeinen Folge des Verwertungsprozesses des Kapitals selbst geworden, in dem „kapitalistische Formen gesellschaftlicher Beziehungen nicht als solche“, also rein, erscheinen würden, sondern „sich in vergegenständlichter Form“[29] ausdrückten. Diese falsche Vergegenständlichung resultiere unmittelbar aus der Produktionsweise, die als gesellschaftliches Verhältnis von Dingen nicht durchschaut würde.Inzwischen sei der moderne Antisemitismus auch nicht mehr rational zu erklären, denn die Zweckmäßigkeit der vorangegangenen Formen des Antisemitismus sei in der bürgerlichen Gesellschaft verlorengegangen.

Genau an der Stelle beginnen die Probleme bei der Interpretation der herangezogenen Grundlage, des Marxschen Fetischbegriffs des Kapitals. Sie führen für Grigat und Postone notwendig zur Aporie der Kritik des Antisemitismus. Schon oben wurde angeführt, dass die Juden in der bürgerlichen Gesellschaft keine identifizierbare Gruppe mehr sind. Anders als in den mit Privilegienrechten agierenden feudalen Gesellschaften sind sie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ohne jedes ‚Privileg’. Weil sie dies sind, sollen nach Grigat und Postone die ökonomischen Verhältnisse selbst den Antisemitismus notwendig als abgeleitetes Verhältnis hervorbringen. Die kapitalistische Warenform müsse deshalb „gleichzeitig bestimmte (…) Denkformen“[30] ausdrücken, was den Antisemitismus als falschen Inhalt des bürgerlichen Bewusstseins deklariert.

Die warenproduzierende Gesellschaft ist nach Marx aber eine, über die sich immer notwendig und zwingend „objektive Gedankenformen“[31], die falsches Bewusstsein der Gesellschaft sind, ausprägen. Diese Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse geschieht in Form eines falschen Bewusstseins, das die Ökonomie unmittelbar wie sie dem Subjekt erscheint beschreibt. In den objektiven Gedankenformen objektivieren sich vermittels der subjektiven Tätigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft die gesellschaftlichen Kategorien der kapitalistischen Gesellschaft: und zwar im Bewusstsein jedes bürgerlichen Subjekts.[32] Das falsche Bewusstsein der Privatproduzenten ist nach Marx dabei ein von den sie umgebenden gesellschaftlichen Verhältnissen der warenproduzierenden Gesellschaft vollkommen adäquates. Es ist das richtige Bewusstsein der falschen objektiven Verhältnisse: „Doch indem ihr Bewußtsein der gesellschaftlichen Realität adäquat ist, ist es notwendig falsch, weil Bewußtsein einer falschen Realität.“[33] Die Zirkulationssphäre scheint zwar, aber sie erscheint dem Subjekt vollkommen richtig: „Den letzteren [den Produzenten, B.E.B.] erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind [sic!], d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“[34]

Deshalb liegen Postone und der unmittelbar an ihn anknüpfende Grigat der Marxschen Erkenntnistheorie nach falsch, wenn sie meinen, der Kapitalismus werde von den Subjekten verkehrt wahrgenommen (s.o.), nicht durchschaut etc. Wahrgenommen werden kann der Kapitalismus auch schon deshalb nicht, weil er sich oben schon nicht als Gegenstand möglicher Anschauung erwies. Er ist nur Gegenstand der Reflexion – ob richtig oder falsch. Wird er nicht vernünftig durchschaut, so wird er falsch gedacht.

Das Urteil, der antisemitische Gedanke sei falsch, müsste deshalb unmittelbar den richtigen Gedanken, die wahre Erkenntnis des Kapitalverhältnisses voraussetzen. Soll aber die wahre Erkenntnis der Falschheit des Antisemitismus möglich sein, kann der Antisemitismus nicht notwendig aus dem Kapitalverhältnis entspringen. In der Form, wie es Postone und Grigat veranschlagen, kann es, wenn es ein wahres Urteil über die Falschheit des sozialen Gegenstands geben soll, kein falsches Bewusstsein geben, das den Antisemitismus notwendig zum Inhalt hat. Würde das falsche Bewusstsein den Verhältnissen unmittelbar entspringen, würde das Bewusstsein aus dem Sein als hieraus abgeleitetes folgen, so könnten die Subjekte ihr eigenes Bewusstsein von den Verhältnissen weder als falsch, noch als richtig begreifen. Sie besäßen nur notwendige Vorstellungen wie gedankliche Abbilder der zwangsläufig (antisemitischen) Realität. Zur spontanen Reflexion des Verhältnisses ihres Bewusstseins zur Realität wären sie in ihrer Reflexhaftigkeit nicht in der Lage. Bewusstsein und Realität wären fürs Subjekt immer identisch, Sein wäre Bewusstsein und vice versa, womit man sich ohne restontologisches Moment der Nichtidentität des Außen gänzlich vom Materialismus verabschiedet hätte; genauso wie von der Erklärung der sozialen Verhältnisse. Den Kapitalismus transzendierenden Momente wie die Spontanität des Subjekts im Denken und Handeln auch gegen seine eigenen Zwecke könnten nicht mehr angeführt werden. Als Skepsis hätte diese sich in sich widersprechende Widerspiegelungstheorie Postones und Grigats den Boden unter den Füssen verloren. Die kompromisslose Kritik der Wertkritiker am Traditionsmarxismus fällt insofern der Logik nach auf eine von ihnen an Lenin und dem Traditionsmarxismus kritisierte reflexhafte positivistische Widerspiegelungstheorie zurück. Eine solche muss den Antisemitismus substantiell unerklärt lassen, da nach ihr kein subjektives Moment seiner Abschaffung, kein Maßstab der Kritik mehr ausweisbar wäre. Eine Erklärung, woher Antisemitismus wirklich kommt und was seine immanenten Zwecke sind, muss logisch gesehen ausbleiben. Diese Nachzeichnung der Konsequenz der Widerspiegelungstheorie deckt sich mit dem Urteil Postones und Grigats, den Antisemitismus der bürgerlichen Gesellschaft als irrational zu brandmarken. Damit werden rationale Kriterien seiner Kritik aus der Hand gegeben. Das Urteil von der Falschheit des Antisemitismus durch Postone und Grigat ist dabei eines, das aus der Subjektlosigkeit ihrer Widerspiegelungstheorie folgt. Ihr eigenes Urteil von der Falschheit des Antisemitismus steht aber gerade durch ihre vertretene Widerspiegelungstheorie gegen ihre gesellschaftstheoretische Logik, die durch ihre Subjektlosigkeit keine substantielle Kritik mehr kennen dürfte. Sie dürfte keine substantielle Kritik und keine Falschheit eines Phänomens kennen, weil der Istzustand notwendig zum Phänomen führt. Kein Subjekt könnte sich von diesem Automatismus befreien. Der Begriff des sich von jedem einzelnen Subjekt vorrangigen Wesens hinter den sozialen Erscheinungen wird von Postone und Grigat nicht ernst genommen. Für beide Theoretiker sind Denken und Sein identisch, das Subjekt ist unmittelbar von seinen eigenen Voraussetzungen abhängig. Der Antisemitismus wird deshalb konsequenterweise nur im Subjekt und seinem (falschen) Denken gesucht. Das falsche Bewusstsein oder der Fetisch ist aber immer nur die notwendige Widerspiegelung des falschen Seienden. Diesen Bann können Grigat und Postone nicht brechen, dafür bräuchten sie eine Subjekttheorie, die Subjekt und Objekt als eigenständige Momente vermittelt. Nur wenn Subjekt und Objekt auch unterschieden sind, kann das Subjekt als Autonomes über das Objekt klare, nicht gleich reflexhafte Gedanken entwickeln. Nur so bleibt die notwendige Distanz in der dialektischen Vermittlung von Subjekt und Objekt gewahrt. Das rationale Subjekt erkennt die Rationalität im Objekt insofern nicht unmittelbar, sondern vermittelt über eine kritische, auch seine eigenen Voraussetzungen in Frage stellen könnenden Vernunft.

Um den Antisemitismus gegen den Positivismus Postones und Grigats noch rational erklären und damit kritisieren zu können, muss er zweckbezogen und eben doch ein Hinzutretendes sein. Deshalb kann er sich nicht aus der bürgerlichen Produktionsweise logisch ableiten lassen. Dass der Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft weiterhin existiert, lässt sich dabei auf zwei wesentliche Komponenten zurückzuführen: den unmittelbaren Konkurrenzzwang innerhalb der bürgerlichen Produktionsweise, den jedes bürgerliche Subjekt auf seinen Schultern spürt, und die lange unheilvolle Geschichte des Judenhasses. Als Momente verbinden sich der Glaube daran, dass die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem ubiquitären Handelsstrukturen ein traditionell jüdisches Produkt/Projekt sei und der Kampf um die eigene Reproduktion, die für den Großteil der Subjekte immer prekär ist, innerhalb der naturwüchsig durch ihre Gesetze hindurch funktionierenden bürgerlichen Gesellschaft verhängnisvoll zum Wesen des modernen Antisemitismus. Weil die Reproduktion innerhalb der systematischen kapitalistischen Produktionsweise prekär bleiben muss, ist die gesellschaftliche Realität die falsche Realität, die es deshalb zu verändern gilt. Nicht ist, wie Postone und Grigat fordern, das Bewusstsein der Subjekte über die alles in Konkurrenz stellende kapitalistische Ökonomie zu korrigieren, sondern die kapitalistische Gesellschaft selbst. Falsch ist das Bewusstsein von der präformierten bürgerlichen Gesellschaft nur, weil das falsche Bewusstsein der falschen gesellschaftlichen Realität adäquat ist. Notwendig falsch ist es, weil es nach Adorno, Marx und der Kritischen Theorie ein erforderliches Bewusstsein zum Überleben innerhalb einer falschen Gesellschaft, einer falschen gesellschaftlichen Realität ist.

Abschließend lässt sich festhalten, dass Positivismus bzw. Subjektivismus in den Gesellschaftswissenschaften dafür verantwortlich sind, dass das Wesen und damit das den modernen Antisemitismus Konstituierende verloren geht. Dies führt zu einer Blindheit hinsichtlich der gesellschaftlichen Gründe des sozialen Phänomens. In der Konsequenz verlässt man sich zu sehr auf die Beschreibung und Kombination von sozialen Fakten. Mit im Raum hängenden Fakten ist aber nichts über die gesellschaftlichen Bedingungen des sozialen Phänomens ausgesagt. Der Subjektivismus kommt aber im Resultat zu keinem Ergebnis. Er dreht sich um das Phänomen im Kreis. Von daher muss mithilfe des Wesensbegriffs aus der Kritischen Theorie und Adorno (s.o.) eine Totalität des gesellschaftlichen Phänomens gezeichnet werden, um den Phänomenen überhaupt gerecht zu werden. Nur so kann eine emphatische Kritik geübt werden, nur so kann eine grundlegende Kritik an Phänomenen geleistet werden.

[1] Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Gesammelte Schriften Bd. 3 (Adorno), Frankfurt a. M. 1998, S. 197.

[2] Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München 2006, S. 7.

[3] Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1998, S. 48: „Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, jedenfalls bis zur Aufklärung, war die deutsche Gesellschaft durch und durch antisemitisch. (…) Warum soll man nicht annehmen, daß derart tief verwurzelte kulturelle Überzeugungen, daß solche Grundzüge der sozialen und sittlichen Weltordnung überdauern, solange nicht bewiesen werden kann, daß sie sich verändert haben oder verschwunden sind.“

[4] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, GS 6, Frankfurt a. M. 1998, S. 171.

[5] Ebd.

[6] Theodor W. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, GS 8, Frankfurt a. M. 1998, S. 356.

[7] G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik Bd. I, Werke Bd. 5, Frankfurt a. M. 1986, S. 41: „Der konsequenter durchgeführte transzendentale Idealismus hat die Nichtigkeit des von der kritischen Philosophie noch übriggelassenen Gespensts des Dings-an-sich, dieses abstrakten, von allem Inhalt abgeschiedenen Schattens erkannt und den Zweck gehabt, ihn vollends zu zerstören.“

[8] Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher und proletarischer Revolution, Frankfurt a. M. 1971, S. 35. (Zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse)

[9] Ebd.

[10] Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 25, Berlin 2003, S, 825.

[11] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 166 f.

[12] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 184.

[13] Ebd., S. 186.

[14] Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, a.a.O., S. 115. (Ontologie und Eros – zur spekulativen Deduktion der Homosexualität)

[15] Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 203.

[16] Theodor W. Adorno, Gesellschaft, GS 8, Frankfurt a. M. 1998, S. 10.

[17] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 296: „Bloß die armseligste Stoffhuberei könnte, unterm Titel wissenschaftlicher Akribie, dagegen sich blind machen, daß die Französische Revolution, so abrupt manche ihrer Akte erfolgten, dem Gesamtzug der Emanzipation des Bürgertums sich einfügte. Sie wäre weder möglich gewesen noch gelungen, hätte es nicht 1789 die Schlüsselstellungen wirtschaftlicher Produktion bereits okkupiert und den Feudalismus und seine absolutistische Spitze, die zuzeiten mit dem bürgerlichen Interesse koaliert war, überflügelt.“

[18] Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW 23, Berlin 2005, S. 660.

[19] Eine solche Gleichgültigkeit des Opfers ohne Hinweis auf die lange Geschichte des Antijudaismus vermutet Peter Bulthaup, Elemente des Antisemitismus. Ohne Untertitel, in: ders., Das Gesetz der Befreiung, Lüneburg 1998, S. 123: „Gegen wen der wohldefinierte Volkszorn sich richtet, sei der nun durch Herkunft, Eßgewohnheit, Barttracht oder sonst etwas identifizierbar, ist zufällig, gleichgültig.“

[20] Unsichtbar-sichtbarer Einfluss meint die Heranzitierung der Antisemiten von jüdischen Personen, die in der Branche arbeiten, um ein vermeintliches Gesamtbild des jüdischen Einflusses in der Branche zu zeichnen. Dem Antisemiten geht es dabei selbstverständlich nicht um Inhalte, sondern nur um Personen, die auch nur ihre Gruppeninteressen im Kopf hätten. Heranzitierte Personen gelten als pars-pro-toto Beispiel eines jüdischen Einflusses.

[21] „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Artikel 14 GG, http://dejure.org/gesetze/GG/14.html.

[22] Den Höhepunkt einer gutbürgerlichen, nur empörenden Kritik der Verhältnisse ohne Substanz liefert das ‚Buch’ Stéphane Hessels, Empört euch!, Berlin 2011.

[23] Stephan Grigat, Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus, Freiburg 2007, S. 289.

[24] Moishe Postone, Antisemitismus und Nationalsozialismus, http://www.antisemitismus.net/theorie/postone.htm

[25] Stephan Grigat, Fetisch…, a.a.O., S. 280.

[26] Ebd.

[27] Stephan Grigat, Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus, Freiburg 2007, S. 208.

[28] Diese Aussage richtet sich vor allem gegen Lenin, der eine so genannte Ablenkungsthese formuliert und den Antisemitismus damit als Mittel im politischen Machtkampf beschreibt: „Auch in anderen Ländern hat man nicht selten Gelegenheit, zu sehen, daß die Kapitalisten Feindschaft gegen die Juden schüren, um den Blick des Arbeiters zu trüben, um seine Aufmerksamkeit von dem wirklichen Feind der Werktätigen – vom Kapital – abzulenken.“ W. I. Lenin, Über die Pogromhetze gegen die Juden, http://www.trend.infopartisan.net/antisemitismus/antisem10.html.

[29] Moishe Postone, Antisemitismus und Nationalsozialismus, ebd.

[30] Ebd.

[31] MEW 23, S. 90.

[32] MEW 23, S. 93: „Für eine Gesellschaft von Warenproduzenten, deren allgemein gesellschaftliches Produktionsverhältnis darin besteht, sich zu ihren Produkten als Waren, also als Werten, zu verhalten und in dieser sachlichen Form ihre Privatarbeiten aufeinander zu beziehn als gleiche menschliche Arbeit, ist das Christentum mit seinem Kultus des abstrakten Menschen, namentlich in seiner bürgerlichen Entwicklung, dem Protestantismus, Deismus usw., die entsprechende Religionsform.“

[33] Frank Kuhne, Das Subjekt der Kritik der politischen Ökonomie, in: Gesellschaftswissenschaftliches Institut (Hrsg.), Traditionell kritische Theorie. Zehn Überlegungen zu verschiedenen Gegenständen, Würzburg 1995, S. 79.

[34] MEW 23, S. 87.

von Bengt Erik Bethmann

Übers Wochenende erhöhte sich die Zahl der Opfer des Anschlags auf zwei Moscheen in Christchurch, Neuseeland auf 50. Noch 31 Personen liegen zum Teil schwer verletzt im Krankenhaus.

Der Schock sitzt tief. Nicht nur in Neuseeland versammelten sich Menschen, um die Opfer zu betrauern und Solidarität statt Rassismus zu fordern. In vielen Teilen der Welt nahm man Anteil und verurteilte die rassistisch motivierte und begründete Tat. Die neuseeländische Regierung will jetzt schnell handeln. „So schnell wie möglich“, hieß es aus Regierungskreisen, soll ein neues Waffengesetz eine Tat wie die vom letzten Freitag verhindern helfen. Details zum entsprechenden Gesetz sind zwar noch nicht bekannt, aber die Regierung ermuntert jetzt schon einmal die Bürger, ihre Waffen der Polizei freiwillig auszuhändigen. Bislang durften in Neuseeland Bürger über 16 nach einer Überprüfung legal Waffen besitzen.

Doch helfen neue Waffengesetze gegen das, was in Christchurch seinen Bann brach? Um fair zu sein: Die Gesetze können zumindest eine Hürde darstellen. Sie können auch einen gesamtgesellschaftlichen Perspektivwechsel einführen. Sie werden das Verhältnis der Bürger zu Waffen verändern.

In einem Staat wie Neuseeland mit wenig Waffenkriminalität war das eher lockere Verhältnis zu Waffen aber nie ein Problem. Um auch an dieser Stelle fair zu bleiben: Neuseeland problematisiert nicht grundsätzlich das Verhältnis von Menschen zu Waffen. Polizei und Militär dürfen auch in Zukunft schwerbewaffnet rumlaufen. So schöpft man schnell Verdacht, dass mit dem Gesetz tiefere und so schnell nicht veränderbare Gründe für den Terroranschlag kaschiert werden sollen. Den größeren Zusammenhang der Tat will man nicht diskutieren und bietet deshalb eine überhastete, nur vermeintliche Lösung des Problems an.

Viele Fakten sprechen für einen sehr defensiven Umgang der neuseeländischen Behörden mit dem Terroranschlag vom 15.03. So heißt es aus Polizeikreisen bisher, dass der tatverdächtige 28-jährige Australier Brenton Tarrant ein psychisch gestörter Einzeltäter sei. Neuseeländische und australische Behörden geben an, dass man Tarrant deswegen zu keiner Zeit auf dem Radar hätte haben können. Geheimdienst und Polizei zeigten sich demnach von der Tat Tarrants überrascht.

Das ist jedoch schwer vorstellbar. Der Australier Tarrant veröffentlichte ein 74-seitiges Manifest, das er keine 10 Minuten vor der Tat auch an die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern schickte. Dass dadurch die Tat, wie Ardern unterstreicht, nicht hätte verhindert werden können, erscheint plausibel. Doch jemand, der ein 74-seitiges Papier mit eindeutig rassistischen Thesen verfasst, kann in der Szene kein Neuling sein. Sein zu Papier gebrachter Rassismus bezieht sich auf in der gut vernetzten Szene einhellig vertretene Thesen. Die Angst vor angeblicher Überfremdung und die Sorge um die kulturelle, ethnische Identität gehören in rechten Kreisen westlicher Gesellschaften inzwischen zum Standardrepertoire. Der westlich-kapitalistische Kulturraum solle gegen die Masseneinwanderung, gegen den so genannten „Bevölkerungsaustausch“ in Form von „Flüchtlingskrise“ und „Wirtschaftsflüchtlingen“ verteidigt werden. Damit nimmt Tarrant eine der Hauptthesen des rechten Vordenkers Renaud Camus auf. Der französische Autor behauptet in seinem 2011 erschienenen Buch „Der große Austausch“, dass europäische Völker gegenwärtig durch Geflüchtete bzw. Muslime ‚ausgetauscht’ werden würden.

Doch Tarrant hätte Camus gar nicht zu lesen brauchen, um die populäre These des so genannten Ethnopluralismus zu übernehmen. Neben der Identitären Bewegung (IB) wird sie auch von westlichen Politikern aufgegriffen. Gewissermaßen aus dem Bundestag twitterte Beatrix von Storch 2016, dass „die Pläne für den Massenaustausch der Bevölkerung längst geschrieben“ seien.[1] Dass im recht harmlosen Ausdruck des Austausches der autochthonen Bevölkerung auch immer die These vom ‚Volkstod’ steckt, ist offensichtlich.

Dass nun jemand, der die Ideologie der neuen Rechten dergleichen innerviert hat, nicht als Einzeltäter gelten kann, obwohl er die direkte Tat sehr wohl alleine begangen hat, macht zudem das Verhältnis Tarrants zu rechten Gruppierungen deutlich. Über mehrere Jahre kollaborierte der Australier offen mit rechten Netzwerken, war in sozialen Medien mit ultrarechten Größen in Kontakt und auf Blogs der rechten Szene aktiv. In seinem Manifest führt Tarrant selbst an, dass er an viele nationalistische Gruppen Geld spendete und mit noch viel mehreren kommunizierte. Unter anderem hätte er auch mit dem Oslo-Attentäter Anders Breivik Kontakt gehabt: „I just had brief contact with Knight Justiciar Breivik and received a blessing for my mission after contacting his knights.“[2] Dass jemand, der nach eigenen Angaben so offen mit unter Beobachtung stehenden Gruppen, Individuen und Netzwerken kommunizierte, sich trotzdem unter dem Radar von Geheimdiensten bewegen kann, macht zumindest stutzig.

Noch mehr als den Verfolgungsbehörden ein eher unvorstellbares Versagen beim Kampf gegen den rechten Terror vorzuwerfen, muss man sich des gegenwärtigen Nährbodens rechten Terrors in den westlichen Gesellschaften bewusst werden. Er erwächst aus einem breiten Sammelsurium von rechten Parteien, Intellektuellen, Bewegungen und Journalisten. Sie alle vertreten ganz ähnliche Positionen wie Tarrant in seinem Manifest; und Tarrant bezog sich konformistisch auf sie. In jeder westlich-kapitalistischen Gesellschaft findet man gegenwärtig eine gut organisierte außerparlamentarische Rechte, die gefährlich mit einer parlamentarischen Rechten koexistiert. Diese Verbindungen werden immer weiter ausgebaut und durch Institutionalisierungen der rassistischen Thesen gelangen sie zu einem gewissen Ansehen und verlieren so sukzessive ihren Hintertürcharakter.

Die fruchtbare Koexistenz von Politik und Straße lässt sich auch im Manifest des Christchurch-Attentäters nachlesen. Tarrant beschreibt US-Präsident Donald Trump nach seinen rassistischen Äußerungen nicht umsonst als „a symbol of renewed white identity“[3]. Bezüglich der Masseneinwanderung etwa findet man nicht nur bei der AfD-Politikerin Beatrix von Storch (s.o.) Formulierungen, die eine qualitative Unterscheidung zu Formulierungen aus Tarrants Manifest unmöglich machen. Ohne zu übertreiben kann man konstatieren, dass rechtsradikale Gedanken in großer Quantität wieder einmal in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft angekommen sind.

Diese Entwicklung der letzten Jahre ist brandgefährlich. Aber sie ist auch keine historisch einmalige Erscheinung in der bürgerlichen Gesellschaft. Von Anbeginn der bürgerlichen Gesellschaft gab es immer schon einen Zusammenhang von bürgerlicher Politik und rechtsradikalen, vor allem auch antisemitischen Gedanken. Man denke nur an das decret infame (1808) von Napoleon, der die bürgerliche Gesellschaft und den code civil gegen die alten Feudalstrukturen mit seiner Armee in Europa festigte. Auch auf die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaften von heute wie das Ausländerrecht, das Widerstandsrecht etc. ließe sich verweisen, wenn man nach Klassifizierungen von Menschen durch Staat und Politik sucht. Deswegen lassen sich Bürgerliche Gesetze auch nicht einfach als Bollwerk gegen den Faschismus hochhalten. Nicht zuletzt basierte die gesamte Herrschaft des Nationalsozialismus legal auf der Notverordnung einer bürgerlichen Gesellschaft, dem Artikel 48 der Weimarer Republik. Die rassistischen Gesetze des Nationalsozialismus standen dementsprechend nicht gegen die bürgerliche Gesellschaft der Weimarer Republik, sondern waren ganz legal Teil von ihr.

Gesetze in den bürgerlichen Staaten bilden generell eine qualitative Grundlage, auf die rechte Parteien, Individuen und Medien mit ihren rassistischen Klassifikationen von Staatsbürgern und Ausländern aufbauen können. Hat der Faschismus einmal seinen Einzug in die Mitte der Gesellschaft geschafft, gibt es eine breite Mehrheit, die zum einen die Konsequenz dieser Gesetze verwirklicht sehen will. Zum anderen gehen Rassisten noch weiter und über die ausformulierten Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft hinaus. Wie von Tarrant werden Naturalisierungsprozesse von Rassisten in allen Teilen der Welt in Frage gestellt. Im rassistischen Milieu wird die Frage nach dem wahren Staatsbürger, dem richtigen citoyen gestellt. Für den rechtsradikalen und -extremen Konsens in den westlichen Gesellschaften können Muslime und Juden dabei nie einen richtigen Staatsbürger abgeben. Jeder bürgerliche Staat wird aus dem Grund schon abgelehnt, weil die Rechtslage Naturalisierungsprozesse zulässt. Die politischen Prozesse, die zu einer pluralistischen Bevölkerungspolitik führen, sollen deshalb bekämpft werden. In ihrer Ablehnung der politischen Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, die als pluralistische Gesellschaft die autochthone Bevölkerung der muslimischen Bevölkerung auch durch deren Naturalisierung opfere, liegt einer der Konsense der faschistischen, rassistischen Rechten.

In zentralen Punkten stimmen die rechten, rassistischen Bewegungen und Individuen in den westlichen Gesellschaften miteinander überein. Das lässt zum einen auf eine gute internationale Vernetzung der Szene schließen – zum anderen aber auch auf ein gemeinsames fundamentum in re. Der ähnlichen Erscheinung der rechten Bewegungen in den verschiedenen Staaten liegt ein gemeinsames Fundament ihrer Existenz zu Grunde, das sich als gesellschaftliches Moment der kapitalistisch organisierten Gesellschaft zeigt.

Den Faschisten sind andere Menschen zu viel, das gesellschaftliche Boot ist ihnen immer zu voll. Zu viele Menschen wollen ihrer Ansicht nach unberechtigterweise etwas vom gesellschaftlichen Reichtum abschöpfen. Ihre Konkurrenten um den gesellschaftlichen Reichtum wollen sie nach Möglichkeit aussieben. Ein Mittel dafür ist, als anders ausgemachte Gruppen rassistisch abzuwerten.[4] Über rassistisch begründete Ausschlusskriterien sichert man sich ein mögliches ‚Privileg’ in der kapitalistischen Gesellschaft, die systematisch Menschen aus ihrem Produktionsprozess freisetzt. Deshalb ist der Versuch der Rassisten, sich einen Konkurrenzvorteil zu sichern, vom Standpunkt der bürgerlichen Produktionsweise immanent betrachtet noch nicht einmal irrational. Die kapitalistische Gesellschaft stößt beständig Menschen als zu viele aus ihrem Produktionsprozess aus.

Diese Systematik des Ausstoßes liegt im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise. Noch bevor der erste Kapitalkreislauf getätigt wurde, wurden Grund und Boden mit der bei Marx beschriebenen ursprünglichen Akkumulation aufgeteilt. Die meisten Menschen hatten von der Aufteilung von Grund und Boden, der Möglichkeit nach kapitalistische Produktionsmittel, nichts. Sie mussten, freigesetzt von den Mitteln zur eigenen Reproduktion, mit sich selbst und ihrer Physis als Ware Arbeitskraft vorlieb nehmen. Juristisch bekam jeder sein Eigentum. Die qualitativen Unterschiede zwischen dem Eigentum an Produktionsmitteln und dem Eigentum an Ware Arbeitskraft – und damit nur an sich selbst und ihrer Körperlichkeit – interessieren das Gesetzbuch nicht. Es gilt bis heute die Ideologie von den gleichen Voraussetzungen. Durch die unterschiedlichen Voraussetzungen entstanden in der bürgerlichen Gesellschaft ab ovo zwei antagonistische Klassen. Durch bürgerliches Recht und Gesetz wird zudem der ökonomische Kreislauf in Gang gesetzt und gehalten, der die Voraussetzungen der zwei antagonistischen Klassen reproduziert. Die Klassen konkurrieren deshalb auch nicht gegeneinander, sondern nur untereinander.[5] Die Systematik der kapitalistischen Produktionsweise reproduziert aber eben nicht nur das Klassenverhältnis in seinen Voraussetzungen, wie oben bereits angeführt. „Mit der Größe des bereits funktionierenden Gesellschaftskapitals und dem Grad seines Wachstums, mit der Ausdehnung der Produktionsleiter und der Masse der in Bewegung gesetzten Arbeiter, mit der Entwicklung der Produktivkraft ihrer Arbeit, mit dem breiteren und volleren Strom aller Springquellen des Reichtums dehnt sich auch die Stufenleiter, worin größere Attraktion der Arbeiter durch das Kapital mit größerer Repulsion derselben verbunden ist, nimmt die Raschheit der Wechsel in der organischen Zusammensetzung des Kapitals und seiner technischen Form zu, und schwillt der Umkreis der Produktionssphären, die bald gleichzeitig, bald abwechselnd davon ergriffen werden. Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung also in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eignen relativen Überzähligmachung.“[6] Marx beschreibt damit die kontinuierlich von Statten gehende notwendige Arbeitslosigkeit in der kapitalistischen Produktionsweise. Das bedeutet aber auch, dass diejenigen, die außer ihrer Körperlichkeit kein Eigentum haben, die Träger der Ware Arbeitskraft, notwendig zu Konkurrenten um Arbeitsplätze werden müssen, ob sie wollen oder nicht. Alle Träger der Ware Arbeitskraft sind sich deshalb in der kapitalistischen Gesellschaft immer schon zu viele, „und tatsächlich bedroht jeder weitere Konkurrent auf dem Markt für Arbeitskräfte ihre Existenz.“[7] Weil dem so ist, werden Forderungen danach, Menschen vom Arbeitsmarkt oder als überzählige Esser, für die man von seinem hart erarbeiteten Lohn aufkommen soll, auszuschließen, laut. Der Rassismus bietet Verzweifelten die Möglichkeit, sich ein Ventil gegen den systematischen Druck zu verschaffen. Dass Rassismus selbstverständlich keine Lösung des Problems ist, sondern eine völlig falsche Verschiebung der Ursache, interessiert Rassisten bekanntlich nicht. Ihr Rassismus ist sinnstiftend, weil er Reproduktionszwecken innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise dient. Sie belegen Menschen mit Makeln, um sich persönlich ökonomische Vorteile zu verschaffen. Historisch bereits dispositionierte Gruppen behalten dabei ihren niedrigen gesellschaftlichen Status und bekommen noch spezifisch-gesellschaftliche Makel dazu. Juden beispielsweise wird von Antisemiten die Herrschaft in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft unterstellt. Sie werden aufgrund ihrer Tätigkeit in der Zirkulationssphäre des Feudalismus zur Kapitalistenklasse gezählt.

Es sieht bislang nun so aus, als sei nur die Arbeiterklasse gegenseitig in Konkurrenz zueinander gestellt. Der Vorwurf, nur die Arbeiterklasse sei aufgrund ihrer prekären Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft rassistisch, ist viel zu einseitig. Auch die Eigentümerklasse ist nicht von der Konkurrenz um die eigene Reproduktion befreit. „Je ein Kapitalist schlägt viele tot.“[8] Der Kampf um den immer begrenzten Marktmagen setzt auch die Kapitalistenklasse lebensbedrohlich unter Druck. Die Konkurrenz um den Marktanteil lässt auch der Kapitalistenklasse keine ruhige Minute. Ihre gesellschaftliche Stellung ist ebenfalls systematisch in Gefahr.

Die wesentlichen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise erfordern demnach immer ein Handeln gegen die Mitmenschen. Des einen Glück ist immer des anderen Leid. Rassisten wollen sich die Menschen aussuchen, die sie aufgrund der allgemeinen Konkurrenz nicht auf dem Arbeitsmarkt begegnen wollen. Ihre Wahl ist eine Kleinbürgerliche, die die Ursachen der zermürbenden Konkurrenz nicht angeht, sondern das Spiel mitspielt und für die eigene Gruppe den größten Vorteil rausschlagen möchte – weil das die eigenen Chancen erhöht, wenn man zur Gruppe zählt. Der Klassenkampf gegen die Ursache, die kapitalistische Produktionsweise, wird aufgrund des Rassenkampfes nicht in Erwägung gezogen. Rechtsradikale wollen den Kapitalismus nicht abschaffen, sie wollen ihn zu ihren Gunsten regeln.

Wenn Rechtsradikale wie Brenton Tarrant Angst um die westlichen Werte und um den westlichen Lebensstil haben, steckt darin eine Angst vor dem systematisch kontinuierlichen gesellschaftlichen Wandel. Es steckt die Angst darin, als Mitglied einer ausgemachten Mehrheitsgesellschaft (rassistisch interpretiert, nicht als Teil einer Arbeiterklasse gedacht etc.) in der kapitalistischen Gesellschaft zukünftig eine Stellung zu verlieren. Die Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg ist im Kapitalismus zwar nie unbegründet. Die rassistische Interpretation der Gesellschaft ist jedoch grundlegend falsch.

Die Gesellschaft trägt jedoch eine gewaltige Mitschuld am sich inzwischen immer mehr ausbreitenden Rassismus. Sie trägt eine Mitschuld an der Angst. Sie trägt durch ihre eigene Definition von Staatsbürgern und Ausländern eine verantwortungsvolle Mitschuld an den rassistischen Klassifikationen. Durch eigenes Ausländerrecht, Asylrecht und auch dem Widerstandsrecht, das nur deutsche Staatsbürger ausführen dürfen, bekommen rassistische Unterscheidungen immer auch einen Spiegel im Gesetz. Dass die rassistischen Unterscheidungen selbst vor Staatsbürgern aufgrund von verschiedenen Hautfarben oder Religionen keinen Halt machen, dafür kann die bürgerliche Gesellschaft zugegebenermaßen wenig.

Wofür die bürgerliche Gesellschaft aber etwas kann ist, dass Menschen wie Brenton Tarrant in ihren grausamen Taten einen gesellschaftlichen Sinn sehen. Tarrant, Breivik, Fields etc. sind nicht die psychisch gestörten Einzeltäter, wie es nicht nur Trump gerne hätte. Sie folgen einem gesellschaftlich breiten Konsens in der Rechten, der durch Parteien, Bewegungen, Netzwerke, Individuen, Medien etc. angefeuert wird und seinerseits seine Ursache in gesellschaftlichen Bewegungsgesetzen hat. Zukünftige rechtsradikale Attentäter lassen sich deshalb auch nicht dadurch stoppen, dass man wie die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern den Namen des rechtsradikalen Attentäters Tarrant nicht ausspricht.[9]

Die Einzeltäterthese ist aufgrund der internationalen Vernetzung der rechten Szene und der gesellschaftlichen Verantwortung falsch. Sie lenkt nur von der eigentlichen, gesellschaftlichen Urheberschaft dieser grausamen Tat ab. Selbst klinische Gutachten über den desolaten Geisteszustand von Tarrant könnten die gesellschaftliche Verantwortung nicht von der Hand weisen. Die Wurzel von psychischen Erkrankungen liegt in gesellschaftlichen Zusammenhängen.

[1] Vgl. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/rechtsextremer-terror-in-neuseeland-49-menschen-ermordet-45405/

[2] https://www.express.co.uk/news/world/1100659/new-zealand-terror-attack-brenton-tarrant-manifesto-anders-breivik-christchurch-shooting

[3] https://www.msnbc.com/am-joy/watch/new-zealand-shooter-calls-trump-symbol-of-renewed-white-identity-1459497539691

[4] Auch Minderheiten sind nicht frei von Rassismus. Das zu behaupten, ist mehr als naiv. Gefährlich einseitig werden diese Erklärungen der heute als Linke gehypten Theoretiker, die von Klassengesellschaft, Ökonomie und kapitalistischen Bewegungsgesetzen nichts mehr hören wollen: „Es gibt keinen Rassismus gegen Weiße und keinen Sexismus gegen Männer.“ http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/warum-es-keinen-sexismus-gegen-maenner-oder-rassismus-gegen-weisse-gibt-a-1236954.html

[5] Vgl. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, Berlin 2005, S. 457.

[6] Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW 23, Berlin 2005, S. 759 f.

[7] Peter Bulthaup, Das Gesetz der Befreiung. Und andere Texte, Lüneburg 1998, S. 123 (Elemente des Antisemitismus. Ohne Untertitel).

[8] Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW 23, S. 790.

[9] Vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/christchurch-jacinda-ardern-sendet-friedensbotschaft-an-muslime-a-1258529.html

von Bengt E. Bethmann

„Wenn es keine Begriffe gibt, wenn wir nicht die Dinge fest und bestimmt denken, dann gibt es keine Wahrheit, das heißt, dann denken wir überhaupt nicht; zugleich steckt in ihr doch auch ein Moment der Unwahrheit.“[1]

Einleitendes

Wahrheit und Objektivität werden in den modernen Gesellschaftswissenschaften und ihren ‚Diskursen‘ als metaphysische Begriffe aufgegeben.[2] Lediglich Meinungen über Dinge werden noch als Aussage akzeptiert. Dabei müssen sie im Rahmen der demokratisch-aufgeklärten Meinungsfreiheit geäußert werden. Eine Meinung darf also nicht substantiell staatsgefährdend sein, das ist ihr objektives Kriterium. Als besonders verlässliche Meinung gilt die Meinung mit dem größten Zuspruch. Sie soll, dem demokratischen Prinzip entsprechend, tonangebend werden, weil sie Mehrheitsmeinung ist. Die mit Meinung eigentlich überhaupt nichts zu tun habende Wahrheit wird durch diesen Prozess zur subjektivistischen Meinung unter vielen degradiert, die sich der demokratischen Meinungsbildung und ihren unterzuordnen habe. Akzeptiert man diese Form von Mehrheitswahlrecht nicht und hält dagegen an Objektivität und Wahrheit fest, gilt das vielen Akademikern und Meinungsbildnern als eine undemokratische Invektive gegen den vorherrschenden Meinungspluralismus. Dogmatisch im Sinne von diktatorisch sei dies – weil Wahrheit wider jede Mehrheitsmeinung eine objektive Gültigkeit fernab subjektiver Überzeugungen beanspruchen soll. Ausgemacht wird Objektivität und Wahrheit als Gefahr: der Masse könnten durch eine Minderheit Vorschriften gemacht werden. Deshalb wird eine sich am emphatischen Wahrheitsbegriff orientierende gesellschaftswissenschaftliche Theorie als potentiell undemokratische, zu ‚objektivistische’ Theorie abgelehnt. Das zeigte bereits Wirkung: längst ist eine sich an Wahrheit und Objektivität orientierende Theorie im akademischen Betrieb zur belanglosen Minderheitsmeinung geworden. Der intellektuelle ‚Fortschritt’ zur Postmoderne schaffte Wahrheit und Objektivität durch den pluralistischen Mechanismus in den akademischen Wissenschaften selbst ab.

Der Wahrheitsbegriff ist aber trotzdem nicht ersatzlos aus der Literatur gestrichen worden. Wenn heute über Wahrheit und Objektivität gesprochen wird, spricht man über die faktische Tatsächlichkeit im Rahmen der empirischen Sozialforschung. Deren hauptsächliche Aufgabe besteht im Eruieren sinnlicher Fakten, die auswertbar sind. Ihre Methoden zur Erlangung und Weiterverarbeitung der Fakten orientiert sie dabei an den nominalistischen Naturwissenschaften, die ihrerseits die sinnlichen, scheinenden Phänomene zum einzig eindimensionalen Aspekt der Wahrheitsfindung erhoben hat. Diese Methodisierung von Wahrheit hält Wahrheit alleine für eine mit den sinnlich-sozialen Fakten identische Erscheinung. Dadurch verpflichtet die Gesellschaftswissenschaft ihre Arbeitsweise auf eine gesellschaftlich funktionelle, sinnlich messbare Faktizität, die positivistisch alle Begriffe als ledigliche Abstraktionen von den Fakten bestimmt. Einzig wahr sind die Fakten, der Begriff ist menschliche, darum fehlerhafte Zutat des Geistes. Das hat selbstverständlich Folgen. Die dadurch nur noch mit Abbreviaturen von der Wahrheit arbeitende Sozialforschung sagt in der Folge nichts mehr über die wesentlichen gesellschaftlichen Bedingungen hinter der heranzitierten, sinnlich sozialen Erscheinung aus.

Wenn nun aber der Wahrheitsbegriff dergleichen durch den Verlust des Wesens bis zur Unkenntlichkeit zusammengekürzt und bloß an rein messbares, spürbares, erfahrbares etc. geknüpft wird, man sich also auf rein sinnlich wahrnehmbares von der sozialwissenschaftlichen Forschung beschränkt, wird (bewusst oder unbewusst) ignoriert, dass sich mit Begriffen sehr wohl Gegenstände adäquat benennen lassen, die für das Subjekt sinnlich nicht erfahrbar sind. Der Klassenantagonismus in der bürgerlichen Gesellschaft könnte bei einer ausschließlichen Berufung auf sinnliche Erfahrungen nicht reflektiert werden. Allein durch die gesellschaftstheoretische Reflexion der gesellschaftlichen Widersprüche (die sich in den sinnlichen Fakten zwar durchaus manifestieren lassen) wird der Klassenantagonismus für das denkende Subjekt gegenständlich. Wenn aber die kapitalistischen Bewegungsgesetze, als immanente Form der Dinge, aufgrund ihrer Unsinnlichkeit für das Subjekt als unwahr und falsch bezeichnet werden, beschneidet sich das denkende Subjekt durch diese selbstgewählte positivistische Oberflächlichkeit einer Reflexion auf gesellschaftliche Herrschaftsmomente in der bürgerlichen Gesellschaft.

In seinem Aufsatz Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity[3] kritisiert der Physiker Alan Sokal den subjektivistischen Umgang mit dem Wahrheitsbegriff in postmodernen akademischen Theorien. In ironischer Anschmiegung an die postmodernen Stilmittel der demokratischen Meinungsbildung von Wahrheit im ‚Diskurs‘ versucht er in dem 1996 in der Zeitschrift Social Texterschienenem Aufsatz darzustellen, dass selbst die Quantengravitation ein soziales Konstrukt ohne jede an sich seiende objektive Wahrheit sei: „But deep conceptual shifts within twentieth-century science have undermined this Cartesian-Newtonian metaphysics; revisionist studies in the history and philosophy of science have cast further doubt on its credibility; and, most recently, feminist and poststructuralist critiques have demystified the substantive content of mainstream Western scientific practice, revealing the ideology of domination concealed behind the façade of ‚objectivity’.“[4] Sokals Witz über die Begriffsfeindlichkeit des subjektivistischen Konstruktivismus verweist auf die Ignoranz der postmodernen und radikalkonstruktivistischen Theorien. Der von Sokal kritisierte Konstruktivismus erklärt aber nicht nur physikalische Gesetze zu unkonkreten Abstraktionen. Postmoderne, radikalkonstruktivistische Theorien verfahren selbstverständlich auch mit den sozialen Gegenständen nur noch subjektivistisch und haben überhaupt kein Interesse an genuin objektiven Kriterien materieller Existenz. Die Postmoderne ignoriert durch ihren strengen Subjektivismus – in selbsternannter Kritik an absolutistischen Denkmustern –, was dem Objekt dialektisch noch an eigenständiger, nichtsubjektiver Autonomie zukommt. Es wird die innere, immanente Form des Objekts ignoriert, das die Dinge erst nichttautologisch im Sinne einer genuinen Vermittlung bestimmen lässt: „Kein Sein ohne Seiendes. Das Etwas als denknotwendiges Substrat des Begriffs, auch dessen vom Sein, ist die äußerste, doch durch keinen weiteren Denkprozeß abzuschaffende Abstraktion des mit Denken nicht identischen Sachhaltigen; ohne das Etwas kann formale Logik nicht gedacht werden.“[5]

Sokals Kritik des Subjektivismus bzw. Sozialkonstruktivismus ist aber so wenig neu wie der sich inzwischen in der Gesellschaftswissenschaft durchgesetzte Subjektivismus ein Zeichen von akademischer Modernität oder Avantgarde ist. Sokals Kritik sticht in ein bis heute ideologisch hart umkämpftes Feld der Geisteswissenschaften. Die bewusste Ablehnung von Wahrheit als metaphysisch gefärbtes, deshalb verstaubtes Totalitätsdenken des Begriffs, das dem Subjekt bloß Grenzen der eigenen, selbstbestimmten Möglichkeiten aufzeige, ist nicht auf die in den heute für ihre Angriffe auf den Wahrheitsbegriff bekannten Theorien von so unterschiedlichen postmodernen Denkern wie Lyotard, Foucault, Butler, Mouffe, Derrida etc. zu restringieren. Es ist ein traditionell philosophischer Streitpunkt, der philosophiegeschichtlich lange schon (bewusst oder unbewusst) ums Ganze geht.[6]

In den Gesellschaftswissenschaften kritisierte Lenin bereits Anfang des 20. Jahrhunderts den sich durchsetzenden Subjektivismus. Die empiriokritizistischen, sich ausschließlich an Sinnlichkeit und idealistischer Subjektivität orientierenden Theorien von Mach und Avenarius lehnte er dabei entschieden ab. Er intervenierte mit seinem Empiriokritizismusbuch gegen den generellen Verlust der objektiven Wahrheit.[7] Im Subjektivismus sah Lenin, neben dessen erkenntnistheoretischen und logischen Unzulänglichkeiten, die Gefahr des Verlusts von politischen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Veränderung. Ohne Wahrheit und Objektivität verschwände die Gesellschaftswissenschaft in einer relativistischen, pluralistischen Bedeutungslosigkeit. Ist das der Fall, könnte kein Kriterium für die Veränderung von Gesellschaft mehr als zwingend und objektiv richtig genannt werden. Die Gesellschaft bliebe demnach deshalb unverändert, weil eine Kritik an Gesellschaft kein objektives Fundament ihrer Argumente mehr anführen könnte. Lenins zum Klassiker des Marxismus-Leninismus avanciertes Buch trägt deshalb den Untertitel Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie. Allerdings entwickelte er im selben Buch auch eine positivistische Widerspiegelungstheorie. Seine Identifizierung von Denken und Sein lässt seine eigene, als Materialismus konzipierte Theorie auf einen positivistischen, idealistischen Subjektivismus zurückfallen. Dieses eigenen identitätsphilosophischen Positivismus ist sich Lenin nicht bewusst. Er fällt dadurch aber auf einen undialektisch vorkritischen, positivistischen Standpunkt der absoluten Identifikation von Subjekt und Objekt zurück. Durch seine Wiederholung subjektivistischer Prämissen der Philosophiegeschichte kehrt er Hegels positivistische Philosophie des Geistes logisch gleichgültig um: undialektisch hat Lenin, indem er das Subjekt aus Objekt deterministisch entspringen lässt, die Bewegung der Sachen zur Bewegung des Denkens gemacht.[8]

Was Lenin allerdings trotz seines hegelianischen Positivismus deutlich sah ist, dass ohne Wahrheitsanspruch jede Aussage über Dinge belanglos wird. Alle Mühen würden demnach obsolet, wenn Aussagen über Dinge bloß eine beliebige subjektivistische Meinung darstellen sollen. Durch eine solche propagierte Belanglosigkeit wird noch jede Theorie, auch die eigene, niedergestreckt.

Um einer relativistischen Beliebigkeit von Theorie, Erkenntnis und Wissenschaft zu entgehen, hält neben Lenin die gesamte dialektische Gesellschaftstheorie mit und nach Marx den Wahrheitsbegriff hoch. Auch wenn sich bei Adorno der metaphysische Wesensbegriff in einen kritischen Unwesensbegriff verwandelt: Substanz und Akzidenz, Wesen und Erscheinung werden von ihm nach Marxschen Vorbild eben so wenig wie der Wahrheitsbegriff überhaupt ad acta gelegt.[9] Das dialektische Denken zeigt sich als das Substrat von Wahrheit und Objektivität. Das Festhalten an Dialektik ist jedoch keine Entscheidung. Wird der Gegenstand adäquat gedacht, denkt man notwendig dialektisch. Wahrheit und Dialektik sind miteinander vermittelt.

Wahrheit als adäquates Denken von Gegenständen

In der philosophischen Tradition ist Wahrheit die Übereinstimmung von Denken und Gegenstand. Aristoteles bestimmt die notwendige Korrespondenz[10] von Sein und Denken als erstes. Dafür zieht er zentrale Thesen aus dem Lehrgedicht des Parmenides[11] heran. Im Zuge seiner prinzipiellen Überlegungen zu Wahrheit und Objektivität formuliert er das logische Prinzip von der Widerspruchsfreiheit, den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch. Die Widerspruchslosigkeit wird für Aristoteles der entscheidende ‚Motor des Denkens’. Sie ist zwar, auch Aristoteles, bereits aus der ionischen Naturphilosophie und dem literarischen Mythos Hesiods bekannt. Bei Hesiod und in der ionischen Naturphilosophie ist sie jedoch noch nicht als Prinzip formuliert. Das ist die sich von der ionischen Naturphilosophie abgrenzende Leistung der Aristotelischen Metaphysik: „Daß eines und dasselbe zugleich vorliegen und nicht vorliegen könne, das ist an demselben (Gegenstand) und in derselben Hinsicht unmöglich– und was wir sonst noch alles für Zusatzbestimmungen treffen müßten, das sei gegen die Widrigkeiten der Reden und Worte zusätzlich festlegt. (…) Dieser (Satz) ist seinem gewachsenen Wesen nach der Anfangs- und Ausgangspunkt für alle anderen Grundforderungen.“[12]

Thomas formuliert in der Renaissance – die auch die Renaissance des Aristoteles im christlichen Abendland war – mit deradaequatio rei et intellectuseinen Identitätssatz von Denken und Sein als Wahrheit. Diese Identität, diese Widerspruchslosigkeit von Denken und Sache, wird für den Dominikaner Thomas zum entscheidenden Maßstab der allgemeinen, objektiv wahren Erkenntnis des Gegenstands: „Respondeo dicendum quod veritas consistit in adaequatione intellectus et rei, sicut supra dictum est. Intellectus autem qui est causa rei, comparatur ad ipsam sicut regula et mensura, e converso autem est de intellectu qui accipit scientiam a rebus.“[13] In dieser Form als Widerspruchslosigkeit gedacht wird Wahrheit in der prima philosophiaoder πρώτη φιλοσοφίαzum Prinzip einer wissenschaftlichen, objektiven Aussage überhaupt.

Unwidersprochen blieb das nicht. Einer der modernen Philosophen, der das Denken von Wahrheit der etablierten Philosophie in seiner Festigkeit in Frage stellte, war Descartes. Mit seinem methodischen Zweifel daran, ob all unser Erleben nicht doch nur ein Traum sei und die Welt (ergo: empirisches!) gar nicht existiere, formuliert er eine für das 17. Jahrhundert scharfe Kritik am seinerzeit herrschenden, durch und durch religiös geprägten Konsens. Die Theologie, von Thomas zur Wissenschaft erhoben, zweifele in seinen Augen zu wenig an den angeblich so festen Grundlagen des menschlichen Denkens.[14]

Diese Skeptik an den Voraussetzungen des Denkens von Wahrheit tradierte sich. Während Descartes jedoch mithilfe seines Skeptizismus noch die Grundlagen des menschlichen Denkens bei der Erkenntnis von Wahrem reflektieren will, entziehen sich heutige, postmoderne Varianten des Skeptizismus selbst den kritischen, reflektierten Boden unter den Füßen. Behauptet wird, anders als bei Descartes, dass es keine Wahrheit gäbe. Das jedoch widerspricht dem jeder Wissenschaft logisch vorauszusetzenden aristotelischem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch: dass es Wahrheit gibt oder eben nicht. Wird jedoch davon ausgegangen, dass es Wahrheit nicht gäbe, wird behauptet, dass dies wahr sei. Durch die logische Widerlegung des kontradiktorischen Gegenteils beweist der moderne Skeptizismus die Existenz von Wahrheit somit apagogisch.

Für Subjekte ist es ohnehin überlebenswichtig, Wahrheit als objektiv seiend anzuerkennen: „[O]hne Hinnahme von etwas als Wahrheit, von dem man gar nicht durchaus weiß, ob es die Wahrheit sei, ist Erfahrung, ja die Erhaltung des Lebens kaum möglich.“[15] Für ein Subjekt ist es lebensgefährlich, Wahrheit zu leugnen oder so zu leben, als würde es kein Richtig oder Falsch geben. Könnte es nicht zwischen Nahrungsmitteln und Sand unterscheiden, würde es verhungern. Außerdem dürfte kein Flugzeug fliegen, wenn nicht wesentliche Gesetze der (Newtonschen) Physik als vernunftgemäß und damit vom Subjekt als objektiv wahr angenommen werden. Auch dürfte man nicht ins Wasser gehen, wenn die an Naturgesetzen geschulte Erfahrung des Schwimmens in Zweifel gezogen wird etc. Eine abstrakte Negation von Wahrheit und Objektivität ist insofern nicht kritisch, sondern Wahnsinn.

Wahrheit als Widerspruchslosigkeit. Zum grundlegenden Satz des zu vermeidenden Widerspruchs

Wahrheit und Widerspruchslosigkeit sind miteinander vermittelt. Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch ist ein logisches, formales Kriterium der subjektiven Bestimmung von Wahrheit. Kritisieren kann man diese Voraussetzung, indem man erklärt, dass das Kriterium als oberster Grundsatz des geisteswissenschaftlichen Denkens insuffizient, ja obsolet sei. Solch eine Skepsis wendet sich jedoch notwendig gegen sich selbst. Denn der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch muss jeder Rede ausnahmslos, jedem Text, jedem Essay, selbst noch jedem schriftstellerischen Stilmittel des stream of consciousnessvorausgesetzt sein, damit der Gegenstand der Rede, des Textes etc. verständlich wird. Zwar überzeugt die immanente logische Stimmigkeit eines Textes oder einer Rede allein nicht gleich von der Richtigkeit ihres Gegenstandes oder dessen Wahrheit. Widerspruchsfreie Theorien können Luftschlangen sein, die aufgrund ihrer begrifflichen auf-sich-selbst-Bezogenheit keine Gegenstände haben oder diese nicht adäquat erfassen können. Logisches Denken alleine reicht insofern nicht, um Gegenstände adäquat zu bestimmen.

Die materialen Kriterien von Wahrheit. Zur notwendigen Sachhaltigkeit von formaler Logik

Das führt auf den Gegenstand des Denkens, zur Sache, das Objekt. Das Objekt soll mithilfe des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch adäquat bestimmt und auch richtig gedacht werden. Ohne Materialität wäre jede Theorie obsolet, zweckbefreite Spielerei.[16] Alle Begriffe implizieren Sachlichkeit, und jedes begriffliche Denken hat diese Implikate, wenn es nicht eine in sich subsistierende logische, analytische Luftschlange ist.[17] Es muss insofern ein Etwas als seiend behauptet werden, damit die Rede/Theorie nicht gegenstandslos und bedeutungslos ist. Dieses materielle Etwas kann auch nicht nur als formell seiend unterstellt werden. Es muss ein Bestimmtes sein. Wenn der Gegenstand also nicht etwas völlig willkürlich widersprüchliches sein soll, müssen dem Subjekt der Rede notwendig bestimmte Prädikate zugeordnet werden. Verhindert wird dadurch, dass dem gegenständlichen Subjekt der Rede jederlei willkürliches, sich möglicherweise widersprechendes zugeteilt wird. So wird die wichtige Unterscheidung von Substanz und Akzidenz aufgezeigt, weil nicht alles akzidentell sein kann.

Akzidenzien gehen auf etwas bestimmtes. Es muss ein Erstes geben, von dem sie Akzidenzien sind. Willkürlich aneinandergereihte Akzidenzien würden um den jeweiligen substantiellen Gegenstand kreisen, womit er unbestimmt bliebe – genauso, wie Akzidenzien nicht den Schlüssel der Erklärung ihrer eigenen Existenz liefern. Akzidenzien sind eben nicht ihre eigene Substanz, die Erscheinung ist nicht sogleich ihr eigenes Wesen. Ein Modell für den Substanzverlust durch die Verabsolutierung von Akzidenzien ist die moderne empirische Sozialforschung. Ihre faktischen Daten entbehren ihres substantiellen Wesens, und so kreisen die faktischen Beschreibungen gesellschaftlicher Phänomene bloß tautologisch um sich selbst. Ihre reine Forschung an den Akzidenzien ist dabei kein Nachteil für die Wissenschaft, weil soziale Fakten für jede gesellschaftswissenschaftliche Theorie selbstverständlich essentiell sind und unbedingt dialektisches Moment substantieller Überlegungen bleiben. Unlängst hat sich jedoch durch die sich an naturwissenschaftlichen Verfahren anlehnenden Sozialwissenschaften, durch die Aufgabe der Einordnung der Sozialforschung als nur komplementäres Moment theoretischer Ausarbeitungen hin zur einzig akzeptierten Wissenschaft, der intellektuelle Fokus, vor allem bezüglich des Wahrheitsbegriffs, verschoben.[18]Der in den Ausarbeitungen der empirischen Sozialforschung bloß noch formell auftretende Hinweis, man habe es in der Sozialforschung mit gesellschaftlichen Gegenständen zu tun, sagt über das den eigenen Forschungen substantielle Etwas, über die totale, bürgerliche Gesellschaft und ihre ubiquitären Bewegungsgesetze, aus denen die Fakten als soziale Phänomene wesentlich entstehen, nichts bestimmtes mehr aus.[19] Die blinde Sachhaltigkeit überfrachtet noch jede substantielle Reflexion. Und so hat die empirische Forschung ihren Bezug zur wesentlichen Substanz der Fakten verloren; und sie tappte dadurch in die substanzlose Tautologie.

Der gesellschaftswissenschaftliche Subjektivismus, der sich in sozialkonstruktivistischen Theorien zeigt, spricht nicht mehr von Wahrheit, Substanz, Wesen etc. Gesellschaft ist in der modernen Gesellschaftswissenschaft rein (inter-)subjektiv konstruiert, alles dem Subjekt Heteronome wird konsequent aus einer verabsolutierten Intersubjektivität herausgeschraubt.[20] Als einzig wirkliches Forschungsobjekt der Gesellschaftswissenschaften präsentiert man damit das Subjekt. Totale gesellschaftliche Bewegungsgesetze und vorrangig objektive gesellschaftliche Bedingungen, die das Subjekt erst in seinen Handlungen prägen, werden ausgespart. Man ist der Überzeugung, dass über Gesellschaft selbst dann ausreichend geredet wird, selbst wenn man nichts weiter als mannigfaltige Daten von Verhaltensweisen der Subjekte in der Gesellschaft in der Hand hält. Das Objekt Gesellschaft verschwindet so aber hinter dem viel zu stark gemachten (inter-)subjektiven Faktor.

Das steht selbst gegen die hauptsächlich mit Subjekten arbeitende Freudsche Sozialpsychologie, die mit dem Über-Ich noch ein Kultur-Über-Ich zum Gegenstand hat und auch das elterliche Über-Ich nicht von bürgerlicher Gesellschaft und ihren herrschaftlichen Komponenten befreit. Doch auch in der Psychologie ist es im post-freudianischen Zeitalter zur subjektivistischen Wende gekommen. Die von Alfred Adler begründete Individualpsychologie ignoriert das notwendig gesellschaftliche, dialektische Moment von Subjekt, das Objekt. Sie fällt deshalb hinter Freuds emanzipative Subjektbestimmung zurück.[21]

Die positivistische, subjektivistische Ablehnung der Begriffe Substanz und Wesen beweist insofern eindrucksvoll den Verlust von Substanz und die selbst gewählte Oberflächlichkeit in den modernen Gesellschaftswissenschaften. Inhalte werden aus den Reflexionen der Gesellschaftswissenschaften einfach rausgeschmissen. Die dem Subjekt als Objekt vorrangige politische Ökonomie, die bürgerliche Gesellschaft als dem Subjekt feindlich gegenüberstehende Totalität gedachte, wird dadurch verschwiegen. Der akademisch vielleicht wichtigste Satz vom zu vermeidenden Widerspruch erzwingt jedoch die dialektische Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, Substanz und Akzidenz: „(…) alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen“[22].

Die Dialektik als Denken des notwendigen Widerspruchs

Glatt logische Aussagen wie ‚A gleich B’ gibt es nicht. ‚A ist B’ heißt bereits, dass ein B, das dem A anscheinend verschieden ist, unter jene Allgemeinheit fällt, die A genannt wird. Das vorausgesetzt, bräuchte man eigentlich die Unterscheidung von A und B nicht. Denn das würde tautologisch wieder eine Tautologie zur Folge haben, A=A. Doch selbst die reinste Tautologie A=A differenziert zwischen zwei A’s, weil das zweite A vom ersten unterschieden wird. Das allein führt zur Notwendigkeit des dialektischen Denkens.

Erst mit dem logischen Satz ‚A muss zugleich B und Nicht-B sein’ ist formal ein Widerspruch dargestellt. Der Satz ist in sich selbst widersprüchlich. Wenn gilt, dass A zugleich B und auch Nicht-B, so unterstellt man die Identität und Nichtidentität von A und B. Alle As sind dabei ausnahmslos mit allen Bs identisch, sie sind aber auch mit allen Bs Nichtidentisch, weil B etwas anderes aussagt als A. Deswegen behauptet das Urteil die Identität von Identität und Nichtidentität. Dieses Urteil von Identität und Nichtidentität muss unter der Einheit oder Identität des Bewusstseins gedacht werden, dem mit sich identischem Subjekt. Anders wäre die Einheit des Bewusstseins zerstört. Alle Aussagen würden ansonsten zerbröseln und notwendig fremdelnde Willkürlichkeit bedeuten. Nichts wäre dann noch sicher und tatsächlich so und nicht anders. Alles sich Widersprechende, weil der Widerspruch dem nicht mehr mit sich identischen Subjekt unbewusst wird, wäre demnach zugleich möglich. Ein Stein kann dann ein Baum sein. Postmodern ausgedrückt hieße das: anything goes:„Das Bewußtsein von ihrer Identität in ihrem bestimmten Sein, von ihrem Selbst, als allgemein erscheinendes, haben sie verloren, sie schauen ohne Bewußtsein ihrer selbst als je Andere auf je Anderes, auf die in reicher Vielfalt zersplitterte Welt.“[23]

Wenn der so widersprüchliche Satz ‚A ist zugleich B und Nicht-B’ als weiterhin unter der Einheit des Bewusstseins, dem mit sich identischen Subjekt, stehend gedacht wird, muss das mit sich identische Subjekt den Widerspruch als einen denknotwendigen hinnehmen. Das mit sich identische Subjekt muss also widersprüchlich denken, um zu nichttautologischen, über A=A entsprechend hinausgehenden, Resultaten zu gelangen. Rationales Denken von Widersprüchen, das die subjektive Einheit des Bewusstseins nicht negiert und richtig und falsch dadurch in willkürliche Beliebigkeit auflöst, ist dialektisches denken. Es ist, weil dialektisches Denken nicht in Willkürlichkeit resultiert, ein rationalesDenken von Widersprüchen.

Auch dialektisches Denken löst den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch also nicht auf. Durch den von Aristoteles zuerst zugrunde gelegten Satz kann der entsprechende Gegenstand überhaupt erst genuin zu Ende reflektiert werden. Erst durch diesen können Denkwidersprüche als logische Fehler von Widersprüchen in der Sache selbst, als Paradoxien oder von notwendigen Denkwidersprüchen, die der Darstellung der Sache wegen eingegangen werden müssen, unterschieden werden. Aus notwendig dialektischen Widersprüchen im Urteil folgt insofern, dass bei isolierten Urteilen nicht stehen geblieben werden kann, sondern die Differenzierung in den Urteilen über die Gegenstände vorgenommen werden muss. Das verlangt eine systematische Vorgehensweise in der Wissenschaft, in der die Widersprüche als sachliche Widersprüchlichkeit des Gegenstands gedacht werden müssen. Weil das dialektische Denken ein rationales begreifen von Widersprüchen ist, treibt jedes genuine wissenschaftliche Durchdenken von Gegenständen notwendig und unabdinglich zur Dialektik. Die Dialektik ist darum die höchste Ausprägung der Logik, mit der Objektivität und Wahrheit nicht etwa als abgeschafft gelten, sondern als in unter der Einheit des Bewusstseins stehenden Widersprüchen vereint werden können. Das dialektische Denken vermittelt Momente in sich, wenn auch nicht absolut.

[1]Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie Band I, Frankfurt a.M. 1973, S. 55.

[2]Diese Tradition lässt sich in der Geschichte der Philosophie bereits anhand der nominalistischen Angriffe auf begriffsrealistische Strömungen verfolgen. Die Soziologie spaltet sich dann im 19. Jahrhundert von der Philosophie ab und verfolgt ihrerseits einen streng nominalistischen Ansatz. Comte und die Positivisten setzen nach der Spaltung die Maßstäbe in den Geisteswissenschaften und bekommen sogar über den akademischen Rahmen hinaus Einfluss. Die brasilianische Nationalflagge trägt das positivistische Motto schlechthin, ordem e progresso. Zur Mitte des 20. Jahrhunderts setzt sich der Nominalismus auch in dem Selbstverständnis nach kritischen Theorien durch. Foucault lässt bereits die Wahrheit im Diskurs zerfließen, Feyerabend, Lyotard und Butler spülen dann die Reste von Gesellschaftskritik und Objektivität aus den poststrukturalistischen Geisteswissenschaften.

[3]http://www.physics.nyu.edu/faculty/sokal/transgress_v2/transgress_v2_singlefile.html

[4]Ebd.

[5]Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1998, S. 139.

[6]Vgl. dazu Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, Frankfurt a.M. 2005, S. 9: „Durch die Geschichte der Philosophie von der Antike bis in die Gegenwart zieht sich ein Problem.“

[7]W.I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie, Peking 1973.

[8]Vgl. auch dazu Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, Frankfurt a.M. 2005, S. 130.

[9]Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1998, S. 27: „Positivisten fällt es nicht schwer, dem Marxischen Materialismus, der von objektiven Wesensgesetzen, keineswegs von unmittelbaren Daten oder Protokollsätzen ausgeht, Spekulation vorzurechnen. (…) Aber der sichere Boden ist dort ein Phantasma, wo der Wahrheitsanspruch erheischt, daß man darüber sich erhebt.“

[10]„The correspondence theory is often traced back to Aristotle’s well-known definition of truth.“ Marian David, The Correspondence Theory of Truth, http://plato.stanford.edu/entries/truth-correspondence/#1(Stanford Encyclopedia of Philosophy), (Zuletzt abgerufen 21.05.2017).

[11]Vgl. Hermann Diels, Parmenides. Lehrgedicht, Berlin 2003.

[12]Aristoteles, Metaphysik, 1005b, Würzburg 2003, S. 196.

[13]Thomas von Aquin, Summa Theologiae, http://www.corpusthomisticum.org/sth1015.html#29338

[14]Vgl. René Descartes, Meditationen, Hamburg 2009.

[15]Theodor W. Adorno, Meinung Wahn Gesellschaft, a.a.O., S. 576 f.

[16]„In Wirklichkeit steckt dahinter nicht weniger das Problem der Vermittlung, das heißt das Problem, daß wir ein Seiendes überhaupt nicht haben und nicht denken können, es sei denn als bestimmtes, und daß darin schon der Begriff – oder die Idee – enthalten ist; dagegen wäre die Idee, die nicht ihrerseits sich bezieht auf Seiendes, auf reale Erfahrung, wirklich bloß ein leerer Name, ein leeres Gespinst.“ Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie Band I, a.a.O., S. 54.

[17]Vgl. dazu Peter Bulthaup, Idealistische und materialistische Dialektik, Lüneburg 1998, S. 129 ff.

[18]Naturwissenschaften brauchen ihre Genesis nicht, Gesellschaftswissenschaften schon.

[19]Eine der wenigen Ausnahme bilden Adorno/Horkheimer bei ihrem Umgang mit Statistiken der empirischen Sozialforschung.

[20]Beispielhaft dafür sind Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1980.

[21]Vgl. u.a. Alfred Adler, Menschenkenntnis, Frankfurt a. M. 1972.

[22]Karl Marx, Das Kapital Bd. 3, MEW 25, Berlin 2003, S. 825.

[23]Robert Menasse, Phänomenologie der Entgeisterung, Frankfurt a.M. 1995, S. 78 f.