Ich möchte kurz erläutern, wie das Expertengremium der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina 2016 zur Zukunft des Gesundheitswesens stand. Es lassen sich daraus auch Rückschlüsse auf die gegenwärtigen Empfehlungen der Wissenschaftler ziehen, wenn man sich den neoliberalen Standpunkt der Einrichtung von vor vier Jahren einmal vor Augen führt.
2016 schlugen die Wissenschaftler vor, die Krankenhauszahl und die Krankenhausbetten in Deutschland drastisch zu reduzieren, weil die meisten Kliniken in der Unterhaltung viel zu teuer seien. Statt 1600 Kliniken bräuchte man in Deutschland heute bloß noch 330 Großkliniken. In diesen könne man dann das Personal zusammenziehen, so mit gebündelten Kräften arbeiten und auch alle Spezialisten konzentrieren. Vor allem in den Ballungszentren sollte die Zahl der Kliniken drastisch dem ökonomischen Kosten-Nutzen-Plan entsprechend verringert werden. Vorbild dafür sei das dänische Modell. Es solle, so die Wissenschaftler, in Zukunft auch in Deutschland zu einem grundlegenden Strukturwandel des Gesundheitswesens kommen. Die seit 1991 bereits um ein Viertel gesunkene Zahl der deutschen Klinikbetten sei laut Bericht immer noch nicht genug an Reduzierung, um Krankenhäuser rentabel zu führen. Die Wissenschaftler führen weiter aus, dass man auf die vielen schlecht ausgerüsteten Kliniken besser verzichten solle, weil sie auch keine ordentliche Gesundheitsversorgung gewährleisten. Die Kliniken würden für viele Patienten sogar eine Gefahr bergen, weil z.B. Schlaganfallpatienten in Krankenhäuser eingeliefert würden, die keinerlei Spezialisierung auf dem Gebiet aufweisen würden und denen auch entsprechende Geräte fehlen würden. Leben zu retten, indem man die ganzen schlechten Einrichtungen schließt, klingt zunächst nach einem hehren Vorschlag. Er wirft ja aber sofort die Frage auf, warum man ’schlechte Kliniken‘ nicht einfach besser ausrüsten und sich dadurch insgesamt im Gesundheitssystem (wieder) breiter aufstellen möchte? Weshalb sollen die Wege in lebensrettende Kliniken also generell durch eine Ausdünnung erweitert werden? Zudem sollte man sich selbstverständlich auch fragen, wie es denn überhaupt erst so weit kommen konnte, dass Kliniken derart hinter anderen herhinken, dass es für Patienten sogar gefährlich wird, würden sie dort eingeliefert? Und: Kann man diese Aussage zum Zustand der Krankenhäuser überhaupt so pauschalisieren oder ist das bloß die geschickte Konstruktion eines Zirkels, um die eigenen Zwecke des geplanten Strukturwandels im Gesundheitswesen zu verfolgen?
Was mit der Corona-Pandemie – und nicht nur mit dem Blick nach Italien – deutlich wird, ist, dass ein rein ökonomisch geführtes Gesundheitssystem eine große Gefahr für hilfsbedürftige Menschen darstellt. Niemand möchte jener Mensch sein, für den es, nur weil die Fälle zu Pandemiezeiten den wohlfeilen Kosten-Nutzen-Plan übersteigen, bei Bedarf in einer durchrationalisierten Gesundheitsversorgung keinen Platz und/oder nicht mehr genügend Ressourcen gibt. Mit gegenübergestellten Zahlen von möglicher Überlastung gegen mögliche Entlastung der Wirtschaft experimentieren die Experten auf dem Weg zur Öffnung aber jetzt. Letztendlich experimentieren sie mit der Gesundheit der Menschen, nicht mit blanken Zahlen. Wenn zuerst Grundschüler wieder beschult oder eventuell Kitas wieder geöffnet werden sollen, bedeutet dies, dass man deren Eltern wieder arbeitsfähig machen möchte. Dahinter steht ein Modell, das eben auch nur nach einer Kosten-Nutzen-Rechnung verfährt: für die Wirtschaft, nicht für die vielen Menschen in den Risikogruppen, denen auch viele Eltern und Großeltern der Kinder angehören. Deshalb ist bei der Stellungnahme der Leopoldina zur Öffnung Kritik geboten. Wenn man den sehr wirtschaftsfreundlichen Kurs der Experten von 2016 bei der aktuellen Stellungnahme bedenkt und was dieser Kurs von damals in der jetzigen Zeit bedeuten würde, sollte man vorsichtig werden und die Dinge hinterfragen.
Ich habe Euch hier noch einen entsprechenden Link zur Studie von 2016 eingefügt: