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von Bengt E. Bethmann

Einleitendes. Der Wesensbegriff der Kritischen Theorie als notwendige Kategorie objektiver Erkenntnis

Auf das, was Horkheimer und Adorno schon in der Dialektik der Aufklärung als den wesentlichen Grund des Antisemitismus bestimmen, wird heute kaum Bezug genommen: „die Verkleidung der Herrschaft in Produktion“[1]. Für Horkheimer und Adorno stehen bei der Untersuchung des Phänomens noch die wesentlichen Bedingungen des Antisemitismus im Vordergrund. Sie haben damit zum wissenschaftlichen Gegenstand gehoben, von was das soziale Phänomen moderner Antisemitismus überhaupt Erscheinung ist. Solch Vorgehen impliziert, dass etwas hinter der Erscheinung des modernen Antisemitismus steht. Über das unmittelbare Phänomen muss demnach hinaus gedacht werden, um dadurch mehr als nur das, was ist über das Phänomen herauszufinden. Denn ohne jede Wesensbestimmung wäre jede Erscheinung, jedes unmittelbare Faktum, also jedes gesellschaftliche Phänomen: eine Erscheinung von Nichts. Wird solch eine Reflexion auf den Grund des unmittelbar Seienden vernachlässigt, könnte nicht mehr bestimmt werden, durch was diese Erscheinungen als solche dem erkennenden Subjekt überhaupt erst vermittelt werden. Das müsste heißen, dass ein soziales Phänomen wie der Antisemitismus sich nicht erkennend durchdringen lässt, solange man auf ihn nur in seiner Unmittelbarkeit starrt. Trotz der verbleibenden Notwendigkeit, den Antisemitismus auch als unmittelbaren Istzustand in der bürgerlichen Gesellschaft ernst zu nehmen – ohne Material keine Theorie, weil kein Gegenstand! – nehme ich mit dem hiesigen Vortrag von solch unmittelbarem Material Abstand. Es geht mir also nicht um eine faktische Darstellung des Phänomens, sondern um die wesentlichen Bedingungen des Seienden. Das kündigt ja auch der Titel bereits an.

Ein Beispiel für eine Wesensfeindschaft ist der Positivismus. Der Positivismus interessiert sich nicht für das, was hinter den Erscheinungen steht und diese hervorbringt. Der Positivismus hat eine lange Tradition. Er denunziert bereits den Kantischen Begriff des Dings an sich als einen obsoleten Substantialismus, als Überbleibsel des hinterwäldlerischen philosophischen Realismus. Da der Kantische Begriff des Dings an sich einen gewissen Interpretationsspielraum für eine mögliche wesentliche ‚Hinterwelt’ der Dinge offen lässt, gilt er den Positivisten als wilder Spekulationsbegriff. Die Positivisten bezweifeln, dass die Dinge mehr sind, als wie sie dem Subjekt erscheinen.

Eine antikantische, antisubstantialistische Interpretation von Phänomenen findet man auch in der Antisemitismusforschung. Werner Bergmann, Professor am Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) in Berlin, fasst den vom Wesensbegriff gereinigten Antisemitismusbegriff wie folgt zusammen: „Gegenüber einer substantialistischen Erklärung wird in der folgenden Darstellung (…) eine funktionalistische bevorzugt, die die Wandlungen der Ursachen, Ziele und Inhalte von Judenfeindschaft in den einzelnen Epochen und Regionen herausarbeitet und auf konkrete gesellschaftliche Konfliktlagen und Interessen zurückzuführen sucht, die nicht notwendig mit dem Verhalten und der Position der jüdischen Minderheit zusammenhängen müssen.“[2] Bergmann kritisiert den ‚Substantialismus’ in den Erklärungen zum Antisemitismus, weil dieser ein ontologisch substantielles Wesen als eine völlig unvermittelte metaphysische Wesenheit konzipiert habe. Er schreibt in seiner es auf die Bestsellerlisten geschafften Geschichte des Antisemitismus, dass ein Substantialismus die fixe Unterstellung von angeblich unveränderlichen Gegebenheiten bedeute. Damit interveniert er durchaus zu Recht gegen eine unreflektierte Substantialisierung von Tätern und Opfern. Diese kennt man von Historikern wie dem Amerikaner Daniel Jonah Goldhagen. Jener erklärt die Virulenz des Antisemitismus mit einer Kontinuität des Gegenstands des Judenhasses: Spätestens seit Luther sind die Deutschen für ihn Antisemiten, kein Wunder also, dass sie es heute noch seien.[3] Ebenfalls substantialistisch sind die Erklärungen der Geschichte aus dem rechten Lager der Historiker in Deutschland. Ernst Nolte hat, als handfester Nationalist, kein Problem damit, mit Hegel die Geschichte als Geschichte von Völkern und Volksgeistern zu erklären. So spricht er, wie auch andere Nationalisten, von substantiellen nationalen Eigenheiten der nationalen Kollektive, die mit ihren jeweiligen Eigenschaften als Agenten der welthistorischen Kämpfe aufgefasst werden. Eine solch vermeintlich ermittelte Identität lässt allerdings alles vermissen, was diese Kollektive aus bestimmten Gründen als erzwungene kollektive Identitäten offenbart: antagonistische Klassen oder unterschiedliche Stände, in die sich alle Kollektive der Nationalisten aufspalten lassen und an denen sich auch die erzwungene Identifizierung der Subjekte mit dem großen Ganzen, mit den angeblich homogenen Kollektiven, abzeichnet. Der von Bergmann kritisierte Substantialismus in den Sozialwissenschaften unterstellt gesellschaftlichen Kollektiven jedoch diese fixen und tradierten Eigenschaften, die es, wie Bergmann zu recht anführt, nicht gibt.

Doch Bergmanns Kritik, dass die falsche Auffassung von Geschichte aus der falschen Substantialisierung kommt, ist trotz ihrer richtigen Stoßrichtung gegen falsche nationalistische, rechte Identitätsstiftungen problematisch. Anders als Bergmann es in seiner oben zitierten Darstellung aus der Geschichte des Antisemitismus formuliert, ist die Kritik des Wesens- oder Substanzbegriffs für eine Kritik an den platten Positionen des sozialwissenschaftlichen Substantialismus nicht zwingend. Wenn Bergmann in seiner oben zitierten Kritik zwar richtigerweise auf die Falschheit eines ewigen Antisemitismus durch die unvermittelte Metaphysik des Opfers anspielt, verabschiedet er sich damit aber von der Erkenntnis, dass es eine substantielle Gesetzmäßigkeit hinter der Erscheinung des Antisemitismus oder auch sonstigen gesellschaftlichen Erscheinungen gibt. So begreift er in der Folge den Wesensbegriff undifferenziert, weil für ihn die falsche Substantialisierung der Rechten zu einer Ablehnung des Wesensbegriffs im Allgemeinen führt.

Aber das geht zu schnell. Es kommt auf einen differenzierten Umgang mit dem Begriff des Wesens oder der Substanz an, um weiterhin auch eine wesentliche Erklärung der Phänomene leisten zu können, wie man sie bei Adorno findet. Für Adorno sind Wesensgesetze hinter den Erscheinungen Gesetzmäßigkeiten, die die objektive Möglichkeit der gesellschaftlichen Erscheinungen sind. Sie sind deshalb auch kein metaphysischer Restbestand, der sich umstandslos wie ein schmerzender Appendix ohne negative Wechselwirkungen auf das Ganze chirurgisch entfernen ließe. Adorno hält deswegen, wie die gesamte Kritische Theorie, am Begriff des Wesens auch und gerade in Bezug auf die gesellschaftlichen Gegenstände und ihrer Erkenntnis fest. Diese hinter den Erscheinungen wirkenden Wesensgesetze seien sogar „wirklicher als das Faktische, in dem sie erscheinen und das über sie betrügt. Aber sie werfen die hergebrachten Attribute ihrer Wesenhaftigkeit ab. Zu benennen wären sie als die auf ihren Begriff gebrachte Negativität, welche die Welt so macht, wie sie ist.“[4]

Als auf den ‚Begriff gebrachte Negativität’ wird der Wesensbegriff durch die kritische Unterscheidung von Wesen und Erscheinung für Adorno zu einem gesellschaftlichen „Unwesen“[5]. Weil Wesen gleich Unwesen ist, ermöglicht dies eine Kritik dessen, was als gesellschaftliche Erscheinung ist. Das soziale Phänomen geht für Adorno somit aus wesentlich Falschem hervor: aus dem Subjekt gegenüber unmittelbar Feindlichem. Das Falsche, Feindliche kann aber als falsche Zwecke Verwirklichendes nur in den gesellschaftlichen Strukturen selber liegen. Es kann nicht aus der bloßen Erscheinung herausgezogen oder sogar noch einfach mit ihr identifiziert werden: „Eine dialektische Theorie der Gesellschaft“, so Adorno, „geht auf Strukturgesetze, welche die Fakten bedingen, in ihnen sich manifestieren und von ihnen modifiziert werden. Unter Strukturgesetzen versteht sie Tendenzen, die mehr oder minder stringent aus historischen Konstituentien des Gesamtsystems folgen.“[6]

Adornos Gedanken zum Wesen wurden von seinen Schülern dann weitergeführt. Die Wesensbestimmung der so mannigfaltigen Erscheinungen fürs Subjekt verliert sich für Hans-Jürgen Krahl beispielsweise nicht wie ein inhaltsloser Schatten in einer von Bergmann unterstellten, unvermittelt ontologischen metaphysischen Wesenheit.[7] In Bezug auf die Rettung des Wesens als Kategorie der Objektivität der Erkenntnis von den Gegenständen heißt es in Zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse, dass „dem Wesen (…) keinerlei unendliche Realität“[8] zukomme. Damit wird die Wesensbestimmung zu einer in „die Sphäre endlicher Seinsbestimmungen“[9] fallenden. Der Wesensbegriff steht so also gegen die anthropologisch fixen Substantialisierungen der Historiker, aber auch gegen eine komplette Ablehnung des Begriffs durch Bergmann.

Krahl gibt der alten metaphysischen Unterscheidung von Wesen und Erscheinung so eine neue, kritische Gestalt. Wesen wird für ihn zum Wahrheitskriterium von Aussagen über die Dinge. Krahl gibt der Unterscheidung von Wesen und Erscheinung aus Gründen der Objektivität der Urteile statt. Sein Festhalten am Wesensbegriff verweist auf Marx. Dieser schreibt im dritten Band des Kapitals, dass „alle Wissenschaft (…) überflüssig“ sei, „wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen (…)“[10]. Auch für Marx lässt sich das Wesen der gesellschaftlichen Erscheinungen also nicht einfach in seine blanke, für die subjektive Sinnlichkeit wahrnehmbare Erscheinung auflösen. Eine solche Identifikation von Wesen und Erscheinung würde eine wirkliche, objektive Ergründung von Phänomenen nicht mehr zulassen.

Der Positivismus in der Wissenschaft ist eine logische Konsequenz des Verlusts von Objektivität und Wahrheit, der die Verbannung alles Wesentlichen aus der Theorie vorantreibt. Er verbannt ins Reich des Fabelhaften, was wirklich hinter der der subjektiven Erfahrung zugänglichen sozialen Erscheinung als deren Hervorbringung steht – und nicht schon diese selbst ist. Ohne also die vorausgesetzte Substantialität anzunehmen, greift eine positivistische Erklärung von gesellschaftlich seienden Phänomenen auf kein Prinzip der Genesis des Phänomens mehr zurück. Das aber steht wider die Arbeit mit dem Begriff und damit wider die Erkenntnis der Sachen: „Tatsächlich ist der Begriff“, so Adorno in der Negativen Dialektik, „insoweit der zureichende Grund der Sache, als die Erforschung zumindest eines sozialen Gegenstandes falsch wird, wo sie sich auf Abhängigkeit innerhalb seines Bereichs begrenzt, die den Gegenstand begründeten, und dessen Determination durch Totalität ignoriert. Ohne den übergeordneten Begriff verhüllen jene Abhängigkeiten die allerwirklichste, die von Gesellschaft, und sie ist von den einzelnen res, die der Begriff unter sich hat, nicht adäquat einzubringen. Sie erscheint aber einzig durchs Einzelne hindurch [sic!], und dadurch wiederum wandelt der Begriff sich in der bestimmten Erkenntnis.“[11]

Die Erkenntnis des sozialen Gegenstands wird also für Adorno falsch, sobald man dessen Determination einer durch ihn hindurch wirkenden Totalität verleugnet. Diese Totalität ist die objektiv erkennbare Gesetzmäßigkeit hinter den sozialen Erscheinungen – und wenn man so will: die erkennbare metaphysische Grundlage aller sozialer Phänomene. Die Totalität ist dabei mehr als eine bloße Agglomeration dessen, was unter sie subsumtionslogisch addiert wird. Sie ist nicht einfach extensional. Adorno bestimmt sie intensional, was bedeutet, dass sie immer auch mehr als eine nur umfangslogische Bestimmung des Daseienden ist. Die Totalität verweist deshalb auf die objektive Bedingung der Möglichkeit der Erscheinung, die sich aus den einzelnen zusammengefassten Bezeichnungen von sozialen Phänomenen nicht erkennen lässt. Sie verweist insofern auf ein hinter den zusammengetragenen Fakten liegendes Prinzip ihrer Existenz.

Dieses Prinzip der Existenz der Fakten ist selbst kein empirischer Fakt. Es ist ein objektives Moment hinter den Fakten, was dem Subjekt a prima vista nicht offensichtlich ist. Bei der Vermittlung von Subjekt und Objekt ist deshalb die Seite der Objektivität, die Seite des Ansich als dem Subjekt gegenübertretende ontologisch hochzuhalten. Das Subjekt wird nur dann nicht zu dem Faktor, der alle Objektivität konstruktivistisch aus sich heraus schafft, wenn die so genannte autonome „Präponderanz des Objekts“[12] durchs Subjekt (an-)erkannt wird. Deshalb spricht Adorno vom notwendig ontologischen Moment innerhalb des Erkenntnisprozesses, dem eine Dignität innerhalb dieses Prozesses zukommt. Aber dieses Moment darf wiederum auch nicht aus dem dialektischen Erkenntniszusammenhang gerissen werden: „Soweit bedarf es eines ontologischen Moments, wie Ontologie kritisch dem Subjekt die bündig konstitutive Rolle aberkennt, ohne daß doch das Subjekt durchs Objekt gleichwie in zweiter Unmittelbarkeit substituiert würde.“[13]

Das Kapitalverhältnis als Wesen des modernen Antisemitismus – aus dem er aber nicht notwendig folgt

Doch was verursacht die sozialen Fakten als Resultate subjektiver Handlungen, was steht als deren objektive Möglichkeit als Prinzip hinter ihrer Erscheinung? Was macht überhaupt den Blick auf prinzipielle gesellschaftliche Strukturgesetze so wichtig, wenn von sozialen Phänomenen gesprochen wird?

Zunächst einmal verdankt sich das Handeln der Subjekte, abstrakt besehen, also ohne eine konkrete Gesellschaftsform gleich mit anzuführen, der arbeitstechnischen Vermittlung mit der Natur, der „sich das Leben der Menschen (…) verdankt“[14]. Alles gesellschaftliche Leben verdankt sich dem rationalen Eingriff des Subjekts in den Naturzusammenhang. Alle Kultur geht darauf zurück. Deshalb ist sie das Resultat der Distanzierung der Menschen von der ersten Natur. Weil die Reproduktion jedes Einzelnen auf Seiten der im Verein in den Naturzusammenhang eingreifenden Gesellschaft liegt, liegt die Möglichkeit der Selbsterhaltung für das Subjekt zweifelsohne auf Seiten der kulturbildenden Gattung und nicht bei ihm selbst. Für seine eigene Reproduktion könnte ein vereinzeltes Subjekt nicht sorgen. Deshalb ist die rational organisierte Gesellschaft alleiniges Subjekt individueller Selbsterhaltung. Als biologische Wesen sind die Subjekte um ihres Überlebens Willen gezwungen, sich die sie als Umwelt umgebenden natürlichen Gegebenheiten durch eine gemeinsame Bearbeitung dienlich zu machen.

Die einzelsubjektive Selbsterhaltung ist von der allgemeinen Gattung und deren rationaler Organisation des Stoffwechsels mit der Natur unmittelbar abhängig. Nur durch den organisierten Stoffwechsel mit der Natur und damit vermittels der Abhängigkeit von den jeweiligen Formvoraussetzungen der konkreten Gesellschaft und ihren kulturell bestimmt organisierten Eingriffen in den Naturzusammenhang lässt sich die Reproduktion des Einzelnen realisieren. Dabei ist gleichgültig, ob sich der Einzelne subjektiv mit dieser konkreten Organisation der Kulturprodukte anfreunden kann oder nicht: „Die Abschaffung des Leidens, oder dessen Milderung hin bis zu einem Grad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen, dem keine Grenze anzubefehlen ist, steht nicht bei dem Einzelnen, der das Leid empfindet, sondern allein bei der Gattung, der er dort noch zugehört, wo er subjektiv von ihr sich lossagt und objektiv in die absolute Einsamkeit des hilflosen Objekts gedrängt wird.“[15]

Weil sich das einzelne Individuum von der objektiven Gesellschaft aus Reproduktionsgründen nicht lösen kann, wird seine Reproduktion innerhalb der Gesellschaft zum Zwang. Die soziale Individuation des Subjekts ist ein Zwang in der immer bereits organisierten Gesellschaft. Diese objektive Einbindung bezeichnet Adorno als einen restontologischen Vorrang des Objekts: die Naturwüchsigkeit der Gesellschaft durch präformierende, institutionalisierte soziale Prozesse, die jedem subjektivistischen Konstruktivismus des Seins widersprechen. Die zweite Natur gleicht dadurch der ersten Natur. Für das einzelne Subjekt ist sie ein unumstößlicher integrativer Zwangszusammenhang, vor dem es kein Entkommen gibt.

Jedes Handeln und jeder sedimentierte soziale Gegenstand und Zusammenhang weist damit durch seine Bedingung der Möglichkeit in die Dimension der ihn konstituierenden Grundlage notwendig zurück: die rational organisiert in den heteronomen Naturzusammenhang eingreifende, kulturschaffende Gesellschaft. Der rational organisierte Eingriff in den Naturzusammenhang erweist sich somit ausnahmslos als existentielle, unmittelbare Grundlage aller sozialer Phänomene, weil er jede Existenz menschlichen Lebens erst ermöglicht. Sofern kein gesellschaftliches Phänomen und auch keine Gesellschaft ohne mit dem zweckmäßigen, selbsterhaltenden Eingriff in die Naturzusammenhänge vermittelt seiend zu denken ist, wäre ohne das gesellschaftliche fundamentum einer in den Naturzusammenhang eingreifenden Gemeinschaft überhaupt keine soziale Erscheinung möglich. Nach Adorno gibt es deshalb „kein soziales Faktum, das nicht durch Gesellschaft determiniert wäre.“[16]

Demnach kann auch der Antisemitismus nicht ohne die sich über den Eingriff in den Naturzusammenhang reproduzierende Gesellschaft als Bedingung seiner Möglichkeit existieren. Die Erklärung des gesellschaftlichen Phänomens Antisemitismus kann deshalb nicht von diesem rational organisierten Eingriff in den Naturzusammenhang als der Notwendigkeit des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses getrennt werden.

Diese dialektische Vermittlung von rational organisierter gesellschaftlicher Reproduktion und sozialen Phänomenen verweist deshalb die Bestimmung des Antisemitismus als gesellschaftlichen Gegenstand notwendig an das konkrete Wie der gesellschaftlichen Organisation der allgemeinen und in sich rationalen Reproduktion von Gesellschaft. Das macht den objektiven gesellschaftlichen Bezug des sozialen Phänomens aus. Damit wird es, durch die Vermittlung mit dem vernünftig organisierten Eingriff in den Naturzusammenhang, auch von einer bloß bodenlosen Chimäre getrennt. Käme dem sozialen Phänomen nicht eine immanent rationale Erklärung zu, wäre es ein molluskenhaft irrationales Phänomen, das jeder weiteren wissenschaftlichen Bestimmung enthoben wäre. Das Gegebene ist aber kein reiner Irrsinn. Dem Phänomen ist ein rationaler Maßstab immanent, der auf die diskursiven Zwecke der Erscheinung in der objektiven Gesellschaft hindeutet. Ohne eine solche immanente Rationalität könnte die Erscheinung mit keinem vernünftigen Maßstab kritisiert werden. Die Vernunft hätte ohne vernünftigen Inhalt der Sache keinen Inhalt, an dem sie kritisch ausgeübt werden könnte. Eine Kritik des Wesens der sozialen Phänomene könnte diese gar nicht erst als Unwesen kritisieren. Die Kritik, wenn sie nicht nur Fantasterei oder Utopie ohne jeden sachlichen Grund sein möchte, die dieses gesellschaftliche Unwesen transzendierte, kann nicht allein aus Einbildungskraft oder einer nur reinen Vernunft kommen: sie muss Ergebnis einer rationalen Durchdringung und Gestaltung des tatsächlichen Materials sein. Solange also die Kritik an gesellschaftlichen Phänomenen mehr als nur ein leeres Versprechen sein will, muss die immanent rationale Zweckbezogenheit des sozialen Gegenstands das Fundament bilden, mit der der soziale Gegenstand in seiner Existenz erklärt wird. Alle Erscheinungen und damit auch ihre Zwecke (ihre Rationalität) fundieren demnach im rational organisierten Reproduktionsprozess der Gesellschaft.

Der zum Überleben der Einzelnen notwendige Reproduktionsprozess der Gesellschaft findet in Form eines ganz bestimmten, konkreten Arbeits- und Reproduktionsprozess statt. Dieser zeigt sich für die Distanzierung der Subjekte von den unmittelbaren Naturzusammenhängen verantwortlich. Er ist historisch und damit wandelbar. Die vorerst nur abstrakte Bestimmung, dass er zum Überleben der Gattung Mensch notwendig sei, verweist deshalb auch auf die Frage, wie dieser Produktionsprozess konkret gestaltet und organisiert ist.

Der Feudalismus begrenzte die im Entstehen begriffene bürgerliche Ökonomie noch durch die noch persönliche Herrschaftsform.[17] Die Amerikanische und Französische Revolution 1776 bzw. 1789 sprengen diese Ketten dann. Konkret setzt die bürgerliche Revolution eine neue Herrschaftsform frei, die die gesellschaftliche Herrschaft hinter allgemeinen, die Privilegienrechte abschaffenden Rechtsformen verschleiert. Herrschaft scheint zwar nicht mehr zu existieren, da allen Mitgliedern über die installierten Rechtsbegriffe vermittelst der garantierten Verfassung allgemeine Rechte zukommen. Denn nach der gewaltsamen Freisetzung von ihren Möglichkeiten der eignen Reproduktion gelten nämlich alle Subjekte der bürgerlichen Gesellschaft als Wareneigentümer gleichermaßen. Völlig abstrahiert von allem konkreten Material kommen ihnen die selben Rechte als Eigentümer von Waren zu. Gleichgültig ist, ob das Rechtssubjekt dabei Eigentum in Form von Ware an Produktionsmitteln besitzt, oder ob es die Verfügbarkeit über die Produktionsmittel gewaltsam verloren hat und darum dazu gezwungen ist, als doppelt freier Lohnarbeiter seine Ware Arbeitskraft auf dem Markt anzupreisen. Da seit den gewaltsamen Aneignungen der Produktionsmittel durch nur eine Klasse diejenigen Subjekte ohne zur eigenen Reproduktion mögliches Material stehen gelassen werden (denen vorher die Verfügung über dieses Material überlassen wurde), ist die Unterstellung gleicher gesellschaftlicher Voraussetzungen aller ein Schein. Diese willkürliche, gewaltsame Aneignung von Produktionsmitteln ist – freilich post festum– in legale Gesetze des diese garantierenden bürgerlichen Staats gegossen. Dadurch wird die Freisetzung von Produktions- und Reproduktionsmitteln durch Wenige von Vielen für die Zeit des Bestehens des bürgerlichen Staats verlängert. Die materiellen Unterschiede werden mit dem staatlich garantierten, von jedem Inhalt abstrahierenden formellen Recht also nicht etwa beseitigt. Mithilfe der Abstraktion in der Rechtsform wird das Privateigentum an Produktionsmitteln für Wenige erst juristisch wasserdicht. Die universale Abstraktion von allem Material durch die staatlich geltenden Rechtsbegriffe bestätigt und verlängert die nach dem Akt ihrer Aneignung offensichtlichen materiellen Unterschiede von Eigentum. Inhaltlich ist die juristische Entfremdung von den Reproduktionsmitteln durch die allgemeine Rechtsform für die erweiterte Unterjochung der materiell Eigentumslosen verantwortlich.So ist das allgemeine, vom Staat garantierte Recht unbedingt als eine vom Reichtum ausschließende Schaffung von Klassenunterschieden aufzufassen. Die Klassenunterschiede rühren von den Unterschieden im konkreten Inhalt des jeweiligen Eigentums her, das sich immer aufs Gesamtkapital bezieht und welches überhaupt erst die Klassen als Klassen reflexiv aufeinander bezieht. Die reflexiven Klassenunterschiede zu exerzieren ist das Interesse der scheinbar interesselosen Abstraktion der garantierten Eigentumstitel von allem Material.Der Zweck der historischen Setzung von Eigentumstiteln ist die Schaffung von elitärem Privateigentum an Produktionsmitteln für die dadurch herrschende Klasse bei gleichzeitiger Freisetzung einer Arbeiterklasse. Ohne die Selbstverdinglichung als Ware fehlt dieser die Möglichkeit, sich wie die Knechte noch selbst zu reproduzieren.

Jenes Subjekt, das neben seiner Arbeitskraft keinerlei andere Ware als Eigentum auf dem Markt geltend machen kann – die der Möglichkeit nach alle Subjekte zur Vernutzung anbieten dürfen – hat diese Ware Arbeitskraft deshalb auf dem Markt zu eigenen Reproduktionszwecken zu verdingen. Es kann sich nur reproduzieren, solange es seine Ware Arbeitskraft auf dem Markt denjenigen Produktionsmittelbesitzern feilbietet, die ihm die eigene Reproduktion der Möglichkeit nach in Aussicht stellen. Passiert dies nicht – im schlimmsten Fall würde das Subjekt verhungern. Der Verkauf von Waren auf dem Markt unterliegt dabei einer beständigen Verwohlfeilerung, also auch die der Ware Arbeitskraft. Diese wird auf dem Markt zu ihrem Tauschwert von einem Eigentümer an Produktionsmitteln zwecks der Verwohlfeilerung seiner mithilfe der Ware Arbeitskraft produzierten Waren gekauft. Der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft darf von ihrem Käufer wie bei jeder anderen Ware angewendet werden. Das spezifisch Eigentümliche der Ware Arbeitskraft gegenüber jeder anderen Ware ist, dass diese über die Anwendung ihres unmittelbar physischen Gebrauchswerts mehr Wert schafft, als zu ihrer physischen Reproduktion notwendig ist. Sie wird also physisch vernutzt, um dem Produktionsmitteleigentümer einen besonderen Vorteil zu verschaffen. Er wendet den Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft an, um seinen Produkten über die gesetzlich garantierte, der Ware Arbeitskraft ausgepressten Mehrarbeit einen Mehrwert hinzufügen zu lassen – den auf dem Markt über die Zirkulationssphäre realisierbaren Gewinn. Die Mehrarbeit ist durch die installierten Rechtsformen der bürgerlichen Gesellschaft genau so wenig sichtbar wie die rechtlich installierten und juristisch verlängerten Klassenverhältnisse sinnlich wahrnehmbar sind. Das ist Teil der Ideologie der Gerechtigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft.

Beide Eigentümer, also Arbeiter und Kapitalist, stehen bei der Verwertung ihres Eigentums in der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren jeweiligen Klassenmitgliedern in heftiger Konkurrenz. Alle Einzelkapitale erweisen sich zwar durch ihre technische Abhängigkeit voneinander affirmativ aufeinander. Der Produktionsmitteleigentümer bleibt jedoch keiner, bleibt er nicht konkurrenzfähig. Durch die Konkurrenz um den begrenzten Marktmagen sind Produktionsmitteleigentümer negativ aufeinander bezogen. Der Lohnarbeiter hingegen kann sich nicht reproduzieren, solange er sich nicht gegen andere Lohnarbeiter auf dem Markt durchsetzt. Alle Lohnarbeiter sind zwar durch die rationalisierte Arbeitsteilung affirmativ aufeinander, aber auch durch Konkurrenz um die ständig fehlenden Arbeitsplätze negativ aufeinander bezogen. An Arbeitsplätzen mangelt es im Kapitalismus systematisch: „Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung (…) in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eignen relativen Überzähligmachung. Es ist dies ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Populationsgesetz, wie in der Tat jede besondre historische Produktionsweise ihre besondren, historisch gültigen Populationsgesetze hat.“[18] Die systematische relative Überzähligmachung großer Teile der Bevölkerung, die notwendige Arbeitslosigkeit der industriellen Reservearmee, drängt die Eigentümer an Nichts als ihrer Ware Arbeitskraft also zur Konkurrenz, während Produktionsmitteleigentümer zur systematischen Verwohlfeilerung ihrer Produkte gezwungen werden, um ihre Konkurrenz auf dem Markt zu unterbieten und dadurch auszustechen.

Insofern versuchen alle Subjekte gegenüber den Konkurrenten sich einen Vorteil zu verschaffen, um die eigene Reproduktion unter kapitalistischen Klassenverhältnissen zu realisieren. Ihnen sind, am eigenen Leib sinnlich erfahrbar, die anderen Mitbewerber um die Reproduktion immer zu viel. Da man neben der darin liegenden Irrationalität jedoch nicht nur juristisch, sondern wohl auch körperlich nicht in der Lage sein dürfte, alles und jedes zu seinen Gunsten zu vernichten um sich im Kampf um die eigene Reproduktion ein wenig Ruhe zu verschaffen, rekurriert man auf ausgewählte, historisch mit Makeln behaftete Gruppen. Diese werden mit dem Ziel des Konkurrenzvorteils diffamiert. Die Rechtssubjekte werden insofern aus Rechts- und Ökonomiegründen in der bürgerlichen Gesellschaft zu Antisemiten und Rassisten – sie müssen dies aber nicht.

Im modernen Antisemitismus kommt dabei ein Konglomerat an Material zur Geltung, dass das ökonomische Konkurrenzvorteilsgesuch mit historisch überbrachten Gerüchten über Juden verbindet. Deshalb ist es auch keineswegs gleichgültig, dass insbesondere Juden im Fadenkreuz des Hasses stehen. Die Opferrolle wurde ihnen gewissermaßen historisch übergestülpt.[19] Weil Juden seit den mittelalterlichen Konzilien keinen Grund und Boden besitzen durften, blieb ihnen im Feudalismus allein die Sphäre der Zirkulation, um ihre jeweilige Reproduktion zu realisieren. Das heißt, allein Geschäfte abseits der Produktion wie der Finanzsektor, Handel etc. waren für Juden zugänglich. Die Juden wurden so zu Vermittlern zwischen Herrschaft und Christen, die Grund und Boden besaßen. Häufig übernahmen die Juden administrative Aufgaben für den Adel, um sich einen Platz in der feudalistischen Gesellschaft zu sichern. Diese Bankgeschäfte für den feudalistischen Adel oder Zinseintreibungen für die Herrschaft vor allem im Zarenreich, dem Ursprungsland des internationalen antisemitischen Bestsellers der Protokolle der Weisen von Zion, vermittelten den Knechten ein bestimmtes Bild von den Juden als Herrscher oder Strippenzieher. Dieses Bild transportiert sich in die bürgerliche Gesellschaft und wird ein zentrales Moment des modernen Antisemitismus. In der bürgerlichen Gesellschaft kommt es dann durch die Verallgemeinerungen und Verschleierungen von nicht notwendiger Arbeit zu Reproduktionszwecken und der Ubiquität der Zirkulationssphäre, der man als Rechtssubjekt unmittelbar ausgesetzt ist, zu antisemitischen Vorstellungen. Man vermutet den Juden als Drahtzieher der gesellschaftlichen Veränderungen und als Profiteur dieser. Durch die Vermittlung über die Zirkulation wird die tatsächliche Herrschaft des ökonomischen Systems verschleiert. In der Zirkulationssphäre wird immer nur der Schnitt realisiert, der in der kapitalistischen Produktion über die erzwungene Mehrarbeit durch den Äquivalententausch gemacht wird. Das Finanzkapital scheint deshalb, wenn es nicht sogar als alleinige Ausbeutungsmacht gilt, das produktive Kapital zu etwas zu drängen, was diesem eigentlich fremd sei. Diese falschen Auffassungen neben den handfest antisemitischen von schaffendem und raffendem Kapital kennt man aus der Ideologie des Nationalsozialismus. Nur mittels emphatischer Reflexion kann man der Systematik der bürgerlichen Produktionsweise und damit der tatsächlichen gesellschaftlichen Herrschaft beikommen. Man kann sie nicht einfach sinnlich wahrnehmen. Antisemiten sehen die gesellschaftliche Herrschaft genau so wenig als eine systematische eines nahezu automatischen Subjekts, der man als atomisiertes individuelles Subjekt nicht beikommt. Sie rufen nach Verantwortlichen für jene sichtbare Misere, die das kapitalistische System allerorten hinterlässt. Sozialdemokraten und kleinbürgerliche Intellektuelle wollen bei gleicher eindimensionaler Kritik Banker und Vertreter der Zirkulationssphäre in die Pflicht nehmen, Antisemiten sehen in diesen Funktionen eine identifizierbare Gruppe: Juden. Der Vorwurf etwa, dass der Jude lieber ein raffgieriger Finanzspekulant sei als ein richtiger Arbeiter, fällt auf die vermeintlich sichtbare Sphäre der Ausbeutung in der Zirkulation zurück. Der Antisemit ist deshalb, wie schon Simmel bemerkt, kein Geisteskranker, sondern ein normaler Bürger – wenn auch zugegebenermaßen ein kreativerer Kopf als sein sprödes Gegenüber, der die inhaltlichen Bestimmungen der Ökonomie als explizit jüdische Ökonomie nicht mitmacht, aber formell zu den selben falschen Urteilen gelangt, wenn er Banken und Banker in die steuerliche oder gesellschaftliche Pflicht nehmen möchte. Der Antisemitismus ist insofern ein Resultat falscher Vorstellungen von Ökonomie und Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft. Auch wenn es in der bürgerlichen Gesellschaft formell, weil die Rechtsformeln keine identifizierbare Gruppe mehr ausmachen, keinen Antisemitismus mehr gibt; der moderne Antisemitismus wird trotz dieser juristischen Gleichgültigkeit gegen jeden Unterschied (solange es nicht der des Passes ist) systematisch aus historischen Gründen virulent. Antisemitische Vorstellungen sind insofern gesellschaftliche Vorstellungen, die in der Systematik und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft entstehen und aus ihr heraustreten. Sie rekurrieren auf die kapitalistische Systematik und sind deshalb nicht außergewöhnlich.

Mit dem Vorwurf, Verursacher des gesellschaftlichen Untergangs zu sein, wirft man Juden auch noch die Illoyalität gegenüber dem Staat und damit der kapitalistisch organisierten Allgemeinheit vor. Unterstellt wird ihnen, dass sie, anstatt ordentlich arbeiten zu gehen, sich lieber am staatlichen Gemeineigentum bereichern. So denunziert man sie als gesellschaftlich verzichtbares, antinationales Konkurrenzobjekt, ohne das die Gesellschaft befriedet wäre. An der Stelle geben sich der moderne Antisemitismus und der bürgerliche Nationalismus die Klinke in die Hand. Die Diffamation der Juden als der nationalen Gemeinschaft Nichtzugehörigen macht sie zu antinationalistischen Feinden im Inneren. Da der Jude zudem Lobbyismus zu seinen Gunsten betreibe, also die Politik wenig ehrenhaft nur zu seiner persönlichen Bereicherung benutze und die Medien genauso wie die Kultur durch seinen unsichtbar-sichtbaren Einfluss[20] zu seinen Gunsten umschreibe, sei er als bösartiges Geschwür aus dem ehrenwerten Volkskörper zu entfernen.

Das bindet den modernen Antisemitismus affirmativ an den Begriff des Allgemeinwohls[21]. Die leise Ahnung der Antisemiten, dass das Allgemeinwohl nur dem konkreten Zweck des reibungslosen Ablaufs des reflexiven Kapitalverhältnisses dient, und damit auch die materiellen Eigentums- und Konkurrenzverhältnisse nach der gewaltsamen Aneignung zu verlängern, und nicht die Bedürfnisse der Einzelnen garantiert, mündet in einer empörten, substanzlosen Diffamation an vermeintlich das System exerzierenden Juden.[22] Das Gemeinwohl ist insofern nur ein anderer Ausdruck für die über die staatlichen Institutionen erzwungene Mehrproduktion und des daraus folgenden Mehrwerts für die Eigentümer an Produktionsmitteln. Dass Juden den vermeintlich eigentlichen Zweck, die Erfüllung der Bedürfnisse aller, usurpieren, ist nur die verkürzte Erklärung der kapitalistischen Misere durch die, die sich mit Ökonomie und Geschichte nicht auseinandersetzen konnten oder wollten.

Die Konkurrenz um die Reproduktion bestimmt den Inhalt des notwendig falschen Bewusstseins des Antisemiten, nicht das falsche Bewusstsein seinen Inhalt

 Die zwei sich an der Neuen Marx Lektüre orientierenden Autoren Moishe Postone und Stephan Grigat sind sich darin einig, dass Antisemitismus und bürgerliche Produktionsweise in notwendigem Zusammenhang zueinander stehen. Der Antisemitismus werde aus seiner hinreichenden Bedingung, dem Kapitalismus gestiftet. Grigat schreibt: „Insofern ist der Antisemitismus nichts einfach Hinzutretendes, sondern sowohl theoretisch als auch historisch mit dem Waren-, Geld- und Kapitalfetisch Zusammenhängendes.“[23] Ebenfalls gegen jedes historische Argument gewendet formuliert Postone in Antisemitismus und Nationalsozialismus, dass die „abstrakte Herrschaft des Kapitals“ die Menschen in ein „Netz dynamischer Kräfte“ verstricke. Diese Kräfte würden, „weil (…) nicht durchschaut (…), in Gestalt des ‚Internationalen Judentums’ wahrgenommen.“[24]

Die notwendige Konsequenz der Ableitung von Ökonomie und erscheinendem Antisemitismus sei nach Grigat deshalb offensichtlich, weil der Antisemitismus nichts einfach Hinzutretendes sei. Das führt zum Urteil Grigats, dass allein in der Erklärung der kapitalistischen Gesellschaft die Begründung des Phänomens Antisemitismus liege: „Erklärt werden kann nicht mehr der Antisemitismus, sondern nur mehr die Gesellschaft, der er strukturell (!) innewohnt.“[25] Weil der Antisemitismus der Gesellschaft strukturell innewohne, würde sich das antisemitische Bild von den Juden in der bürgerlichen Gesellschaft auch „aus sich selbst“[26] erklären.

Grigat und Postone wollen den Fetischbegriff als einziges materialistisches Moment der Erklärung von Kapitalismus und damit auch des Antisemitismus akzeptieren. Der Fetisch wird nach Marx dem falschen Bewusstsein von den gesellschaftlichen Verhältnissen gleichgesetzt. Für Grigat sei der Fetischbegriff nicht nur die Überwindung des Traditionsmarxismus und der inzwischen unzureichend gewordenen Klassenbegriffe: „Die Geschichte erscheint so nicht mehr wie im traditionellen Marxismus vorrangig als eine Geschichte von Klassenkämpfen, sondern als eine Geschichte von Fetischverhältnissen.“[27]

Allein der zentrale Begriff des Fetischs, die Marxsche Erkenntnistheorie aus dem ersten Kapitel des Kapitals, kann für Grigat und Postone die Universalität des Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft begründen. Über die gesellschaftliche Totalität des sozialen Phänomens gebe allein die Marxsche Erkenntnistheorie Aufschluss.[28] Der moderne Antisemitismus sei zur allgemeinen Folge des Verwertungsprozesses des Kapitals selbst geworden, in dem „kapitalistische Formen gesellschaftlicher Beziehungen nicht als solche“, also rein, erscheinen würden, sondern „sich in vergegenständlichter Form“[29] ausdrückten. Diese falsche Vergegenständlichung resultiere unmittelbar aus der Produktionsweise, die als gesellschaftliches Verhältnis von Dingen nicht durchschaut würde.Inzwischen sei der moderne Antisemitismus auch nicht mehr rational zu erklären, denn die Zweckmäßigkeit der vorangegangenen Formen des Antisemitismus sei in der bürgerlichen Gesellschaft verlorengegangen.

Genau an der Stelle beginnen die Probleme bei der Interpretation der herangezogenen Grundlage, des Marxschen Fetischbegriffs des Kapitals. Sie führen für Grigat und Postone notwendig zur Aporie der Kritik des Antisemitismus. Schon oben wurde angeführt, dass die Juden in der bürgerlichen Gesellschaft keine identifizierbare Gruppe mehr sind. Anders als in den mit Privilegienrechten agierenden feudalen Gesellschaften sind sie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ohne jedes ‚Privileg’. Weil sie dies sind, sollen nach Grigat und Postone die ökonomischen Verhältnisse selbst den Antisemitismus notwendig als abgeleitetes Verhältnis hervorbringen. Die kapitalistische Warenform müsse deshalb „gleichzeitig bestimmte (…) Denkformen“[30] ausdrücken, was den Antisemitismus als falschen Inhalt des bürgerlichen Bewusstseins deklariert.

Die warenproduzierende Gesellschaft ist nach Marx aber eine, über die sich immer notwendig und zwingend „objektive Gedankenformen“[31], die falsches Bewusstsein der Gesellschaft sind, ausprägen. Diese Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse geschieht in Form eines falschen Bewusstseins, das die Ökonomie unmittelbar wie sie dem Subjekt erscheint beschreibt. In den objektiven Gedankenformen objektivieren sich vermittels der subjektiven Tätigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft die gesellschaftlichen Kategorien der kapitalistischen Gesellschaft: und zwar im Bewusstsein jedes bürgerlichen Subjekts.[32] Das falsche Bewusstsein der Privatproduzenten ist nach Marx dabei ein von den sie umgebenden gesellschaftlichen Verhältnissen der warenproduzierenden Gesellschaft vollkommen adäquates. Es ist das richtige Bewusstsein der falschen objektiven Verhältnisse: „Doch indem ihr Bewußtsein der gesellschaftlichen Realität adäquat ist, ist es notwendig falsch, weil Bewußtsein einer falschen Realität.“[33] Die Zirkulationssphäre scheint zwar, aber sie erscheint dem Subjekt vollkommen richtig: „Den letzteren [den Produzenten, B.E.B.] erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind [sic!], d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“[34]

Deshalb liegen Postone und der unmittelbar an ihn anknüpfende Grigat der Marxschen Erkenntnistheorie nach falsch, wenn sie meinen, der Kapitalismus werde von den Subjekten verkehrt wahrgenommen (s.o.), nicht durchschaut etc. Wahrgenommen werden kann der Kapitalismus auch schon deshalb nicht, weil er sich oben schon nicht als Gegenstand möglicher Anschauung erwies. Er ist nur Gegenstand der Reflexion – ob richtig oder falsch. Wird er nicht vernünftig durchschaut, so wird er falsch gedacht.

Das Urteil, der antisemitische Gedanke sei falsch, müsste deshalb unmittelbar den richtigen Gedanken, die wahre Erkenntnis des Kapitalverhältnisses voraussetzen. Soll aber die wahre Erkenntnis der Falschheit des Antisemitismus möglich sein, kann der Antisemitismus nicht notwendig aus dem Kapitalverhältnis entspringen. In der Form, wie es Postone und Grigat veranschlagen, kann es, wenn es ein wahres Urteil über die Falschheit des sozialen Gegenstands geben soll, kein falsches Bewusstsein geben, das den Antisemitismus notwendig zum Inhalt hat. Würde das falsche Bewusstsein den Verhältnissen unmittelbar entspringen, würde das Bewusstsein aus dem Sein als hieraus abgeleitetes folgen, so könnten die Subjekte ihr eigenes Bewusstsein von den Verhältnissen weder als falsch, noch als richtig begreifen. Sie besäßen nur notwendige Vorstellungen wie gedankliche Abbilder der zwangsläufig (antisemitischen) Realität. Zur spontanen Reflexion des Verhältnisses ihres Bewusstseins zur Realität wären sie in ihrer Reflexhaftigkeit nicht in der Lage. Bewusstsein und Realität wären fürs Subjekt immer identisch, Sein wäre Bewusstsein und vice versa, womit man sich ohne restontologisches Moment der Nichtidentität des Außen gänzlich vom Materialismus verabschiedet hätte; genauso wie von der Erklärung der sozialen Verhältnisse. Den Kapitalismus transzendierenden Momente wie die Spontanität des Subjekts im Denken und Handeln auch gegen seine eigenen Zwecke könnten nicht mehr angeführt werden. Als Skepsis hätte diese sich in sich widersprechende Widerspiegelungstheorie Postones und Grigats den Boden unter den Füssen verloren. Die kompromisslose Kritik der Wertkritiker am Traditionsmarxismus fällt insofern der Logik nach auf eine von ihnen an Lenin und dem Traditionsmarxismus kritisierte reflexhafte positivistische Widerspiegelungstheorie zurück. Eine solche muss den Antisemitismus substantiell unerklärt lassen, da nach ihr kein subjektives Moment seiner Abschaffung, kein Maßstab der Kritik mehr ausweisbar wäre. Eine Erklärung, woher Antisemitismus wirklich kommt und was seine immanenten Zwecke sind, muss logisch gesehen ausbleiben. Diese Nachzeichnung der Konsequenz der Widerspiegelungstheorie deckt sich mit dem Urteil Postones und Grigats, den Antisemitismus der bürgerlichen Gesellschaft als irrational zu brandmarken. Damit werden rationale Kriterien seiner Kritik aus der Hand gegeben. Das Urteil von der Falschheit des Antisemitismus durch Postone und Grigat ist dabei eines, das aus der Subjektlosigkeit ihrer Widerspiegelungstheorie folgt. Ihr eigenes Urteil von der Falschheit des Antisemitismus steht aber gerade durch ihre vertretene Widerspiegelungstheorie gegen ihre gesellschaftstheoretische Logik, die durch ihre Subjektlosigkeit keine substantielle Kritik mehr kennen dürfte. Sie dürfte keine substantielle Kritik und keine Falschheit eines Phänomens kennen, weil der Istzustand notwendig zum Phänomen führt. Kein Subjekt könnte sich von diesem Automatismus befreien. Der Begriff des sich von jedem einzelnen Subjekt vorrangigen Wesens hinter den sozialen Erscheinungen wird von Postone und Grigat nicht ernst genommen. Für beide Theoretiker sind Denken und Sein identisch, das Subjekt ist unmittelbar von seinen eigenen Voraussetzungen abhängig. Der Antisemitismus wird deshalb konsequenterweise nur im Subjekt und seinem (falschen) Denken gesucht. Das falsche Bewusstsein oder der Fetisch ist aber immer nur die notwendige Widerspiegelung des falschen Seienden. Diesen Bann können Grigat und Postone nicht brechen, dafür bräuchten sie eine Subjekttheorie, die Subjekt und Objekt als eigenständige Momente vermittelt. Nur wenn Subjekt und Objekt auch unterschieden sind, kann das Subjekt als Autonomes über das Objekt klare, nicht gleich reflexhafte Gedanken entwickeln. Nur so bleibt die notwendige Distanz in der dialektischen Vermittlung von Subjekt und Objekt gewahrt. Das rationale Subjekt erkennt die Rationalität im Objekt insofern nicht unmittelbar, sondern vermittelt über eine kritische, auch seine eigenen Voraussetzungen in Frage stellen könnenden Vernunft.

Um den Antisemitismus gegen den Positivismus Postones und Grigats noch rational erklären und damit kritisieren zu können, muss er zweckbezogen und eben doch ein Hinzutretendes sein. Deshalb kann er sich nicht aus der bürgerlichen Produktionsweise logisch ableiten lassen. Dass der Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft weiterhin existiert, lässt sich dabei auf zwei wesentliche Komponenten zurückzuführen: den unmittelbaren Konkurrenzzwang innerhalb der bürgerlichen Produktionsweise, den jedes bürgerliche Subjekt auf seinen Schultern spürt, und die lange unheilvolle Geschichte des Judenhasses. Als Momente verbinden sich der Glaube daran, dass die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem ubiquitären Handelsstrukturen ein traditionell jüdisches Produkt/Projekt sei und der Kampf um die eigene Reproduktion, die für den Großteil der Subjekte immer prekär ist, innerhalb der naturwüchsig durch ihre Gesetze hindurch funktionierenden bürgerlichen Gesellschaft verhängnisvoll zum Wesen des modernen Antisemitismus. Weil die Reproduktion innerhalb der systematischen kapitalistischen Produktionsweise prekär bleiben muss, ist die gesellschaftliche Realität die falsche Realität, die es deshalb zu verändern gilt. Nicht ist, wie Postone und Grigat fordern, das Bewusstsein der Subjekte über die alles in Konkurrenz stellende kapitalistische Ökonomie zu korrigieren, sondern die kapitalistische Gesellschaft selbst. Falsch ist das Bewusstsein von der präformierten bürgerlichen Gesellschaft nur, weil das falsche Bewusstsein der falschen gesellschaftlichen Realität adäquat ist. Notwendig falsch ist es, weil es nach Adorno, Marx und der Kritischen Theorie ein erforderliches Bewusstsein zum Überleben innerhalb einer falschen Gesellschaft, einer falschen gesellschaftlichen Realität ist.

Abschließend lässt sich festhalten, dass Positivismus bzw. Subjektivismus in den Gesellschaftswissenschaften dafür verantwortlich sind, dass das Wesen und damit das den modernen Antisemitismus Konstituierende verloren geht. Dies führt zu einer Blindheit hinsichtlich der gesellschaftlichen Gründe des sozialen Phänomens. In der Konsequenz verlässt man sich zu sehr auf die Beschreibung und Kombination von sozialen Fakten. Mit im Raum hängenden Fakten ist aber nichts über die gesellschaftlichen Bedingungen des sozialen Phänomens ausgesagt. Der Subjektivismus kommt aber im Resultat zu keinem Ergebnis. Er dreht sich um das Phänomen im Kreis. Von daher muss mithilfe des Wesensbegriffs aus der Kritischen Theorie und Adorno (s.o.) eine Totalität des gesellschaftlichen Phänomens gezeichnet werden, um den Phänomenen überhaupt gerecht zu werden. Nur so kann eine emphatische Kritik geübt werden, nur so kann eine grundlegende Kritik an Phänomenen geleistet werden.

[1] Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Gesammelte Schriften Bd. 3 (Adorno), Frankfurt a. M. 1998, S. 197.

[2] Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München 2006, S. 7.

[3] Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1998, S. 48: „Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, jedenfalls bis zur Aufklärung, war die deutsche Gesellschaft durch und durch antisemitisch. (…) Warum soll man nicht annehmen, daß derart tief verwurzelte kulturelle Überzeugungen, daß solche Grundzüge der sozialen und sittlichen Weltordnung überdauern, solange nicht bewiesen werden kann, daß sie sich verändert haben oder verschwunden sind.“

[4] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, GS 6, Frankfurt a. M. 1998, S. 171.

[5] Ebd.

[6] Theodor W. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, GS 8, Frankfurt a. M. 1998, S. 356.

[7] G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik Bd. I, Werke Bd. 5, Frankfurt a. M. 1986, S. 41: „Der konsequenter durchgeführte transzendentale Idealismus hat die Nichtigkeit des von der kritischen Philosophie noch übriggelassenen Gespensts des Dings-an-sich, dieses abstrakten, von allem Inhalt abgeschiedenen Schattens erkannt und den Zweck gehabt, ihn vollends zu zerstören.“

[8] Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher und proletarischer Revolution, Frankfurt a. M. 1971, S. 35. (Zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse)

[9] Ebd.

[10] Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 25, Berlin 2003, S, 825.

[11] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 166 f.

[12] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 184.

[13] Ebd., S. 186.

[14] Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, a.a.O., S. 115. (Ontologie und Eros – zur spekulativen Deduktion der Homosexualität)

[15] Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 203.

[16] Theodor W. Adorno, Gesellschaft, GS 8, Frankfurt a. M. 1998, S. 10.

[17] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 296: „Bloß die armseligste Stoffhuberei könnte, unterm Titel wissenschaftlicher Akribie, dagegen sich blind machen, daß die Französische Revolution, so abrupt manche ihrer Akte erfolgten, dem Gesamtzug der Emanzipation des Bürgertums sich einfügte. Sie wäre weder möglich gewesen noch gelungen, hätte es nicht 1789 die Schlüsselstellungen wirtschaftlicher Produktion bereits okkupiert und den Feudalismus und seine absolutistische Spitze, die zuzeiten mit dem bürgerlichen Interesse koaliert war, überflügelt.“

[18] Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW 23, Berlin 2005, S. 660.

[19] Eine solche Gleichgültigkeit des Opfers ohne Hinweis auf die lange Geschichte des Antijudaismus vermutet Peter Bulthaup, Elemente des Antisemitismus. Ohne Untertitel, in: ders., Das Gesetz der Befreiung, Lüneburg 1998, S. 123: „Gegen wen der wohldefinierte Volkszorn sich richtet, sei der nun durch Herkunft, Eßgewohnheit, Barttracht oder sonst etwas identifizierbar, ist zufällig, gleichgültig.“

[20] Unsichtbar-sichtbarer Einfluss meint die Heranzitierung der Antisemiten von jüdischen Personen, die in der Branche arbeiten, um ein vermeintliches Gesamtbild des jüdischen Einflusses in der Branche zu zeichnen. Dem Antisemiten geht es dabei selbstverständlich nicht um Inhalte, sondern nur um Personen, die auch nur ihre Gruppeninteressen im Kopf hätten. Heranzitierte Personen gelten als pars-pro-toto Beispiel eines jüdischen Einflusses.

[21] „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Artikel 14 GG, http://dejure.org/gesetze/GG/14.html.

[22] Den Höhepunkt einer gutbürgerlichen, nur empörenden Kritik der Verhältnisse ohne Substanz liefert das ‚Buch’ Stéphane Hessels, Empört euch!, Berlin 2011.

[23] Stephan Grigat, Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus, Freiburg 2007, S. 289.

[24] Moishe Postone, Antisemitismus und Nationalsozialismus, http://www.antisemitismus.net/theorie/postone.htm

[25] Stephan Grigat, Fetisch…, a.a.O., S. 280.

[26] Ebd.

[27] Stephan Grigat, Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus, Freiburg 2007, S. 208.

[28] Diese Aussage richtet sich vor allem gegen Lenin, der eine so genannte Ablenkungsthese formuliert und den Antisemitismus damit als Mittel im politischen Machtkampf beschreibt: „Auch in anderen Ländern hat man nicht selten Gelegenheit, zu sehen, daß die Kapitalisten Feindschaft gegen die Juden schüren, um den Blick des Arbeiters zu trüben, um seine Aufmerksamkeit von dem wirklichen Feind der Werktätigen – vom Kapital – abzulenken.“ W. I. Lenin, Über die Pogromhetze gegen die Juden, http://www.trend.infopartisan.net/antisemitismus/antisem10.html.

[29] Moishe Postone, Antisemitismus und Nationalsozialismus, ebd.

[30] Ebd.

[31] MEW 23, S. 90.

[32] MEW 23, S. 93: „Für eine Gesellschaft von Warenproduzenten, deren allgemein gesellschaftliches Produktionsverhältnis darin besteht, sich zu ihren Produkten als Waren, also als Werten, zu verhalten und in dieser sachlichen Form ihre Privatarbeiten aufeinander zu beziehn als gleiche menschliche Arbeit, ist das Christentum mit seinem Kultus des abstrakten Menschen, namentlich in seiner bürgerlichen Entwicklung, dem Protestantismus, Deismus usw., die entsprechende Religionsform.“

[33] Frank Kuhne, Das Subjekt der Kritik der politischen Ökonomie, in: Gesellschaftswissenschaftliches Institut (Hrsg.), Traditionell kritische Theorie. Zehn Überlegungen zu verschiedenen Gegenständen, Würzburg 1995, S. 79.

[34] MEW 23, S. 87.

von Bengt E. Bethmann

„Wenn es keine Begriffe gibt, wenn wir nicht die Dinge fest und bestimmt denken, dann gibt es keine Wahrheit, das heißt, dann denken wir überhaupt nicht; zugleich steckt in ihr doch auch ein Moment der Unwahrheit.“[1]

Einleitendes

Wahrheit und Objektivität werden in den modernen Gesellschaftswissenschaften und ihren ‚Diskursen‘ als metaphysische Begriffe aufgegeben.[2] Lediglich Meinungen über Dinge werden noch als Aussage akzeptiert. Dabei müssen sie im Rahmen der demokratisch-aufgeklärten Meinungsfreiheit geäußert werden. Eine Meinung darf also nicht substantiell staatsgefährdend sein, das ist ihr objektives Kriterium. Als besonders verlässliche Meinung gilt die Meinung mit dem größten Zuspruch. Sie soll, dem demokratischen Prinzip entsprechend, tonangebend werden, weil sie Mehrheitsmeinung ist. Die mit Meinung eigentlich überhaupt nichts zu tun habende Wahrheit wird durch diesen Prozess zur subjektivistischen Meinung unter vielen degradiert, die sich der demokratischen Meinungsbildung und ihren unterzuordnen habe. Akzeptiert man diese Form von Mehrheitswahlrecht nicht und hält dagegen an Objektivität und Wahrheit fest, gilt das vielen Akademikern und Meinungsbildnern als eine undemokratische Invektive gegen den vorherrschenden Meinungspluralismus. Dogmatisch im Sinne von diktatorisch sei dies – weil Wahrheit wider jede Mehrheitsmeinung eine objektive Gültigkeit fernab subjektiver Überzeugungen beanspruchen soll. Ausgemacht wird Objektivität und Wahrheit als Gefahr: der Masse könnten durch eine Minderheit Vorschriften gemacht werden. Deshalb wird eine sich am emphatischen Wahrheitsbegriff orientierende gesellschaftswissenschaftliche Theorie als potentiell undemokratische, zu ‚objektivistische’ Theorie abgelehnt. Das zeigte bereits Wirkung: längst ist eine sich an Wahrheit und Objektivität orientierende Theorie im akademischen Betrieb zur belanglosen Minderheitsmeinung geworden. Der intellektuelle ‚Fortschritt’ zur Postmoderne schaffte Wahrheit und Objektivität durch den pluralistischen Mechanismus in den akademischen Wissenschaften selbst ab.

Der Wahrheitsbegriff ist aber trotzdem nicht ersatzlos aus der Literatur gestrichen worden. Wenn heute über Wahrheit und Objektivität gesprochen wird, spricht man über die faktische Tatsächlichkeit im Rahmen der empirischen Sozialforschung. Deren hauptsächliche Aufgabe besteht im Eruieren sinnlicher Fakten, die auswertbar sind. Ihre Methoden zur Erlangung und Weiterverarbeitung der Fakten orientiert sie dabei an den nominalistischen Naturwissenschaften, die ihrerseits die sinnlichen, scheinenden Phänomene zum einzig eindimensionalen Aspekt der Wahrheitsfindung erhoben hat. Diese Methodisierung von Wahrheit hält Wahrheit alleine für eine mit den sinnlich-sozialen Fakten identische Erscheinung. Dadurch verpflichtet die Gesellschaftswissenschaft ihre Arbeitsweise auf eine gesellschaftlich funktionelle, sinnlich messbare Faktizität, die positivistisch alle Begriffe als ledigliche Abstraktionen von den Fakten bestimmt. Einzig wahr sind die Fakten, der Begriff ist menschliche, darum fehlerhafte Zutat des Geistes. Das hat selbstverständlich Folgen. Die dadurch nur noch mit Abbreviaturen von der Wahrheit arbeitende Sozialforschung sagt in der Folge nichts mehr über die wesentlichen gesellschaftlichen Bedingungen hinter der heranzitierten, sinnlich sozialen Erscheinung aus.

Wenn nun aber der Wahrheitsbegriff dergleichen durch den Verlust des Wesens bis zur Unkenntlichkeit zusammengekürzt und bloß an rein messbares, spürbares, erfahrbares etc. geknüpft wird, man sich also auf rein sinnlich wahrnehmbares von der sozialwissenschaftlichen Forschung beschränkt, wird (bewusst oder unbewusst) ignoriert, dass sich mit Begriffen sehr wohl Gegenstände adäquat benennen lassen, die für das Subjekt sinnlich nicht erfahrbar sind. Der Klassenantagonismus in der bürgerlichen Gesellschaft könnte bei einer ausschließlichen Berufung auf sinnliche Erfahrungen nicht reflektiert werden. Allein durch die gesellschaftstheoretische Reflexion der gesellschaftlichen Widersprüche (die sich in den sinnlichen Fakten zwar durchaus manifestieren lassen) wird der Klassenantagonismus für das denkende Subjekt gegenständlich. Wenn aber die kapitalistischen Bewegungsgesetze, als immanente Form der Dinge, aufgrund ihrer Unsinnlichkeit für das Subjekt als unwahr und falsch bezeichnet werden, beschneidet sich das denkende Subjekt durch diese selbstgewählte positivistische Oberflächlichkeit einer Reflexion auf gesellschaftliche Herrschaftsmomente in der bürgerlichen Gesellschaft.

In seinem Aufsatz Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity[3] kritisiert der Physiker Alan Sokal den subjektivistischen Umgang mit dem Wahrheitsbegriff in postmodernen akademischen Theorien. In ironischer Anschmiegung an die postmodernen Stilmittel der demokratischen Meinungsbildung von Wahrheit im ‚Diskurs‘ versucht er in dem 1996 in der Zeitschrift Social Texterschienenem Aufsatz darzustellen, dass selbst die Quantengravitation ein soziales Konstrukt ohne jede an sich seiende objektive Wahrheit sei: „But deep conceptual shifts within twentieth-century science have undermined this Cartesian-Newtonian metaphysics; revisionist studies in the history and philosophy of science have cast further doubt on its credibility; and, most recently, feminist and poststructuralist critiques have demystified the substantive content of mainstream Western scientific practice, revealing the ideology of domination concealed behind the façade of ‚objectivity’.“[4] Sokals Witz über die Begriffsfeindlichkeit des subjektivistischen Konstruktivismus verweist auf die Ignoranz der postmodernen und radikalkonstruktivistischen Theorien. Der von Sokal kritisierte Konstruktivismus erklärt aber nicht nur physikalische Gesetze zu unkonkreten Abstraktionen. Postmoderne, radikalkonstruktivistische Theorien verfahren selbstverständlich auch mit den sozialen Gegenständen nur noch subjektivistisch und haben überhaupt kein Interesse an genuin objektiven Kriterien materieller Existenz. Die Postmoderne ignoriert durch ihren strengen Subjektivismus – in selbsternannter Kritik an absolutistischen Denkmustern –, was dem Objekt dialektisch noch an eigenständiger, nichtsubjektiver Autonomie zukommt. Es wird die innere, immanente Form des Objekts ignoriert, das die Dinge erst nichttautologisch im Sinne einer genuinen Vermittlung bestimmen lässt: „Kein Sein ohne Seiendes. Das Etwas als denknotwendiges Substrat des Begriffs, auch dessen vom Sein, ist die äußerste, doch durch keinen weiteren Denkprozeß abzuschaffende Abstraktion des mit Denken nicht identischen Sachhaltigen; ohne das Etwas kann formale Logik nicht gedacht werden.“[5]

Sokals Kritik des Subjektivismus bzw. Sozialkonstruktivismus ist aber so wenig neu wie der sich inzwischen in der Gesellschaftswissenschaft durchgesetzte Subjektivismus ein Zeichen von akademischer Modernität oder Avantgarde ist. Sokals Kritik sticht in ein bis heute ideologisch hart umkämpftes Feld der Geisteswissenschaften. Die bewusste Ablehnung von Wahrheit als metaphysisch gefärbtes, deshalb verstaubtes Totalitätsdenken des Begriffs, das dem Subjekt bloß Grenzen der eigenen, selbstbestimmten Möglichkeiten aufzeige, ist nicht auf die in den heute für ihre Angriffe auf den Wahrheitsbegriff bekannten Theorien von so unterschiedlichen postmodernen Denkern wie Lyotard, Foucault, Butler, Mouffe, Derrida etc. zu restringieren. Es ist ein traditionell philosophischer Streitpunkt, der philosophiegeschichtlich lange schon (bewusst oder unbewusst) ums Ganze geht.[6]

In den Gesellschaftswissenschaften kritisierte Lenin bereits Anfang des 20. Jahrhunderts den sich durchsetzenden Subjektivismus. Die empiriokritizistischen, sich ausschließlich an Sinnlichkeit und idealistischer Subjektivität orientierenden Theorien von Mach und Avenarius lehnte er dabei entschieden ab. Er intervenierte mit seinem Empiriokritizismusbuch gegen den generellen Verlust der objektiven Wahrheit.[7] Im Subjektivismus sah Lenin, neben dessen erkenntnistheoretischen und logischen Unzulänglichkeiten, die Gefahr des Verlusts von politischen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Veränderung. Ohne Wahrheit und Objektivität verschwände die Gesellschaftswissenschaft in einer relativistischen, pluralistischen Bedeutungslosigkeit. Ist das der Fall, könnte kein Kriterium für die Veränderung von Gesellschaft mehr als zwingend und objektiv richtig genannt werden. Die Gesellschaft bliebe demnach deshalb unverändert, weil eine Kritik an Gesellschaft kein objektives Fundament ihrer Argumente mehr anführen könnte. Lenins zum Klassiker des Marxismus-Leninismus avanciertes Buch trägt deshalb den Untertitel Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie. Allerdings entwickelte er im selben Buch auch eine positivistische Widerspiegelungstheorie. Seine Identifizierung von Denken und Sein lässt seine eigene, als Materialismus konzipierte Theorie auf einen positivistischen, idealistischen Subjektivismus zurückfallen. Dieses eigenen identitätsphilosophischen Positivismus ist sich Lenin nicht bewusst. Er fällt dadurch aber auf einen undialektisch vorkritischen, positivistischen Standpunkt der absoluten Identifikation von Subjekt und Objekt zurück. Durch seine Wiederholung subjektivistischer Prämissen der Philosophiegeschichte kehrt er Hegels positivistische Philosophie des Geistes logisch gleichgültig um: undialektisch hat Lenin, indem er das Subjekt aus Objekt deterministisch entspringen lässt, die Bewegung der Sachen zur Bewegung des Denkens gemacht.[8]

Was Lenin allerdings trotz seines hegelianischen Positivismus deutlich sah ist, dass ohne Wahrheitsanspruch jede Aussage über Dinge belanglos wird. Alle Mühen würden demnach obsolet, wenn Aussagen über Dinge bloß eine beliebige subjektivistische Meinung darstellen sollen. Durch eine solche propagierte Belanglosigkeit wird noch jede Theorie, auch die eigene, niedergestreckt.

Um einer relativistischen Beliebigkeit von Theorie, Erkenntnis und Wissenschaft zu entgehen, hält neben Lenin die gesamte dialektische Gesellschaftstheorie mit und nach Marx den Wahrheitsbegriff hoch. Auch wenn sich bei Adorno der metaphysische Wesensbegriff in einen kritischen Unwesensbegriff verwandelt: Substanz und Akzidenz, Wesen und Erscheinung werden von ihm nach Marxschen Vorbild eben so wenig wie der Wahrheitsbegriff überhaupt ad acta gelegt.[9] Das dialektische Denken zeigt sich als das Substrat von Wahrheit und Objektivität. Das Festhalten an Dialektik ist jedoch keine Entscheidung. Wird der Gegenstand adäquat gedacht, denkt man notwendig dialektisch. Wahrheit und Dialektik sind miteinander vermittelt.

Wahrheit als adäquates Denken von Gegenständen

In der philosophischen Tradition ist Wahrheit die Übereinstimmung von Denken und Gegenstand. Aristoteles bestimmt die notwendige Korrespondenz[10] von Sein und Denken als erstes. Dafür zieht er zentrale Thesen aus dem Lehrgedicht des Parmenides[11] heran. Im Zuge seiner prinzipiellen Überlegungen zu Wahrheit und Objektivität formuliert er das logische Prinzip von der Widerspruchsfreiheit, den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch. Die Widerspruchslosigkeit wird für Aristoteles der entscheidende ‚Motor des Denkens’. Sie ist zwar, auch Aristoteles, bereits aus der ionischen Naturphilosophie und dem literarischen Mythos Hesiods bekannt. Bei Hesiod und in der ionischen Naturphilosophie ist sie jedoch noch nicht als Prinzip formuliert. Das ist die sich von der ionischen Naturphilosophie abgrenzende Leistung der Aristotelischen Metaphysik: „Daß eines und dasselbe zugleich vorliegen und nicht vorliegen könne, das ist an demselben (Gegenstand) und in derselben Hinsicht unmöglich– und was wir sonst noch alles für Zusatzbestimmungen treffen müßten, das sei gegen die Widrigkeiten der Reden und Worte zusätzlich festlegt. (…) Dieser (Satz) ist seinem gewachsenen Wesen nach der Anfangs- und Ausgangspunkt für alle anderen Grundforderungen.“[12]

Thomas formuliert in der Renaissance – die auch die Renaissance des Aristoteles im christlichen Abendland war – mit deradaequatio rei et intellectuseinen Identitätssatz von Denken und Sein als Wahrheit. Diese Identität, diese Widerspruchslosigkeit von Denken und Sache, wird für den Dominikaner Thomas zum entscheidenden Maßstab der allgemeinen, objektiv wahren Erkenntnis des Gegenstands: „Respondeo dicendum quod veritas consistit in adaequatione intellectus et rei, sicut supra dictum est. Intellectus autem qui est causa rei, comparatur ad ipsam sicut regula et mensura, e converso autem est de intellectu qui accipit scientiam a rebus.“[13] In dieser Form als Widerspruchslosigkeit gedacht wird Wahrheit in der prima philosophiaoder πρώτη φιλοσοφίαzum Prinzip einer wissenschaftlichen, objektiven Aussage überhaupt.

Unwidersprochen blieb das nicht. Einer der modernen Philosophen, der das Denken von Wahrheit der etablierten Philosophie in seiner Festigkeit in Frage stellte, war Descartes. Mit seinem methodischen Zweifel daran, ob all unser Erleben nicht doch nur ein Traum sei und die Welt (ergo: empirisches!) gar nicht existiere, formuliert er eine für das 17. Jahrhundert scharfe Kritik am seinerzeit herrschenden, durch und durch religiös geprägten Konsens. Die Theologie, von Thomas zur Wissenschaft erhoben, zweifele in seinen Augen zu wenig an den angeblich so festen Grundlagen des menschlichen Denkens.[14]

Diese Skeptik an den Voraussetzungen des Denkens von Wahrheit tradierte sich. Während Descartes jedoch mithilfe seines Skeptizismus noch die Grundlagen des menschlichen Denkens bei der Erkenntnis von Wahrem reflektieren will, entziehen sich heutige, postmoderne Varianten des Skeptizismus selbst den kritischen, reflektierten Boden unter den Füßen. Behauptet wird, anders als bei Descartes, dass es keine Wahrheit gäbe. Das jedoch widerspricht dem jeder Wissenschaft logisch vorauszusetzenden aristotelischem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch: dass es Wahrheit gibt oder eben nicht. Wird jedoch davon ausgegangen, dass es Wahrheit nicht gäbe, wird behauptet, dass dies wahr sei. Durch die logische Widerlegung des kontradiktorischen Gegenteils beweist der moderne Skeptizismus die Existenz von Wahrheit somit apagogisch.

Für Subjekte ist es ohnehin überlebenswichtig, Wahrheit als objektiv seiend anzuerkennen: „[O]hne Hinnahme von etwas als Wahrheit, von dem man gar nicht durchaus weiß, ob es die Wahrheit sei, ist Erfahrung, ja die Erhaltung des Lebens kaum möglich.“[15] Für ein Subjekt ist es lebensgefährlich, Wahrheit zu leugnen oder so zu leben, als würde es kein Richtig oder Falsch geben. Könnte es nicht zwischen Nahrungsmitteln und Sand unterscheiden, würde es verhungern. Außerdem dürfte kein Flugzeug fliegen, wenn nicht wesentliche Gesetze der (Newtonschen) Physik als vernunftgemäß und damit vom Subjekt als objektiv wahr angenommen werden. Auch dürfte man nicht ins Wasser gehen, wenn die an Naturgesetzen geschulte Erfahrung des Schwimmens in Zweifel gezogen wird etc. Eine abstrakte Negation von Wahrheit und Objektivität ist insofern nicht kritisch, sondern Wahnsinn.

Wahrheit als Widerspruchslosigkeit. Zum grundlegenden Satz des zu vermeidenden Widerspruchs

Wahrheit und Widerspruchslosigkeit sind miteinander vermittelt. Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch ist ein logisches, formales Kriterium der subjektiven Bestimmung von Wahrheit. Kritisieren kann man diese Voraussetzung, indem man erklärt, dass das Kriterium als oberster Grundsatz des geisteswissenschaftlichen Denkens insuffizient, ja obsolet sei. Solch eine Skepsis wendet sich jedoch notwendig gegen sich selbst. Denn der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch muss jeder Rede ausnahmslos, jedem Text, jedem Essay, selbst noch jedem schriftstellerischen Stilmittel des stream of consciousnessvorausgesetzt sein, damit der Gegenstand der Rede, des Textes etc. verständlich wird. Zwar überzeugt die immanente logische Stimmigkeit eines Textes oder einer Rede allein nicht gleich von der Richtigkeit ihres Gegenstandes oder dessen Wahrheit. Widerspruchsfreie Theorien können Luftschlangen sein, die aufgrund ihrer begrifflichen auf-sich-selbst-Bezogenheit keine Gegenstände haben oder diese nicht adäquat erfassen können. Logisches Denken alleine reicht insofern nicht, um Gegenstände adäquat zu bestimmen.

Die materialen Kriterien von Wahrheit. Zur notwendigen Sachhaltigkeit von formaler Logik

Das führt auf den Gegenstand des Denkens, zur Sache, das Objekt. Das Objekt soll mithilfe des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch adäquat bestimmt und auch richtig gedacht werden. Ohne Materialität wäre jede Theorie obsolet, zweckbefreite Spielerei.[16] Alle Begriffe implizieren Sachlichkeit, und jedes begriffliche Denken hat diese Implikate, wenn es nicht eine in sich subsistierende logische, analytische Luftschlange ist.[17] Es muss insofern ein Etwas als seiend behauptet werden, damit die Rede/Theorie nicht gegenstandslos und bedeutungslos ist. Dieses materielle Etwas kann auch nicht nur als formell seiend unterstellt werden. Es muss ein Bestimmtes sein. Wenn der Gegenstand also nicht etwas völlig willkürlich widersprüchliches sein soll, müssen dem Subjekt der Rede notwendig bestimmte Prädikate zugeordnet werden. Verhindert wird dadurch, dass dem gegenständlichen Subjekt der Rede jederlei willkürliches, sich möglicherweise widersprechendes zugeteilt wird. So wird die wichtige Unterscheidung von Substanz und Akzidenz aufgezeigt, weil nicht alles akzidentell sein kann.

Akzidenzien gehen auf etwas bestimmtes. Es muss ein Erstes geben, von dem sie Akzidenzien sind. Willkürlich aneinandergereihte Akzidenzien würden um den jeweiligen substantiellen Gegenstand kreisen, womit er unbestimmt bliebe – genauso, wie Akzidenzien nicht den Schlüssel der Erklärung ihrer eigenen Existenz liefern. Akzidenzien sind eben nicht ihre eigene Substanz, die Erscheinung ist nicht sogleich ihr eigenes Wesen. Ein Modell für den Substanzverlust durch die Verabsolutierung von Akzidenzien ist die moderne empirische Sozialforschung. Ihre faktischen Daten entbehren ihres substantiellen Wesens, und so kreisen die faktischen Beschreibungen gesellschaftlicher Phänomene bloß tautologisch um sich selbst. Ihre reine Forschung an den Akzidenzien ist dabei kein Nachteil für die Wissenschaft, weil soziale Fakten für jede gesellschaftswissenschaftliche Theorie selbstverständlich essentiell sind und unbedingt dialektisches Moment substantieller Überlegungen bleiben. Unlängst hat sich jedoch durch die sich an naturwissenschaftlichen Verfahren anlehnenden Sozialwissenschaften, durch die Aufgabe der Einordnung der Sozialforschung als nur komplementäres Moment theoretischer Ausarbeitungen hin zur einzig akzeptierten Wissenschaft, der intellektuelle Fokus, vor allem bezüglich des Wahrheitsbegriffs, verschoben.[18]Der in den Ausarbeitungen der empirischen Sozialforschung bloß noch formell auftretende Hinweis, man habe es in der Sozialforschung mit gesellschaftlichen Gegenständen zu tun, sagt über das den eigenen Forschungen substantielle Etwas, über die totale, bürgerliche Gesellschaft und ihre ubiquitären Bewegungsgesetze, aus denen die Fakten als soziale Phänomene wesentlich entstehen, nichts bestimmtes mehr aus.[19] Die blinde Sachhaltigkeit überfrachtet noch jede substantielle Reflexion. Und so hat die empirische Forschung ihren Bezug zur wesentlichen Substanz der Fakten verloren; und sie tappte dadurch in die substanzlose Tautologie.

Der gesellschaftswissenschaftliche Subjektivismus, der sich in sozialkonstruktivistischen Theorien zeigt, spricht nicht mehr von Wahrheit, Substanz, Wesen etc. Gesellschaft ist in der modernen Gesellschaftswissenschaft rein (inter-)subjektiv konstruiert, alles dem Subjekt Heteronome wird konsequent aus einer verabsolutierten Intersubjektivität herausgeschraubt.[20] Als einzig wirkliches Forschungsobjekt der Gesellschaftswissenschaften präsentiert man damit das Subjekt. Totale gesellschaftliche Bewegungsgesetze und vorrangig objektive gesellschaftliche Bedingungen, die das Subjekt erst in seinen Handlungen prägen, werden ausgespart. Man ist der Überzeugung, dass über Gesellschaft selbst dann ausreichend geredet wird, selbst wenn man nichts weiter als mannigfaltige Daten von Verhaltensweisen der Subjekte in der Gesellschaft in der Hand hält. Das Objekt Gesellschaft verschwindet so aber hinter dem viel zu stark gemachten (inter-)subjektiven Faktor.

Das steht selbst gegen die hauptsächlich mit Subjekten arbeitende Freudsche Sozialpsychologie, die mit dem Über-Ich noch ein Kultur-Über-Ich zum Gegenstand hat und auch das elterliche Über-Ich nicht von bürgerlicher Gesellschaft und ihren herrschaftlichen Komponenten befreit. Doch auch in der Psychologie ist es im post-freudianischen Zeitalter zur subjektivistischen Wende gekommen. Die von Alfred Adler begründete Individualpsychologie ignoriert das notwendig gesellschaftliche, dialektische Moment von Subjekt, das Objekt. Sie fällt deshalb hinter Freuds emanzipative Subjektbestimmung zurück.[21]

Die positivistische, subjektivistische Ablehnung der Begriffe Substanz und Wesen beweist insofern eindrucksvoll den Verlust von Substanz und die selbst gewählte Oberflächlichkeit in den modernen Gesellschaftswissenschaften. Inhalte werden aus den Reflexionen der Gesellschaftswissenschaften einfach rausgeschmissen. Die dem Subjekt als Objekt vorrangige politische Ökonomie, die bürgerliche Gesellschaft als dem Subjekt feindlich gegenüberstehende Totalität gedachte, wird dadurch verschwiegen. Der akademisch vielleicht wichtigste Satz vom zu vermeidenden Widerspruch erzwingt jedoch die dialektische Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, Substanz und Akzidenz: „(…) alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen“[22].

Die Dialektik als Denken des notwendigen Widerspruchs

Glatt logische Aussagen wie ‚A gleich B’ gibt es nicht. ‚A ist B’ heißt bereits, dass ein B, das dem A anscheinend verschieden ist, unter jene Allgemeinheit fällt, die A genannt wird. Das vorausgesetzt, bräuchte man eigentlich die Unterscheidung von A und B nicht. Denn das würde tautologisch wieder eine Tautologie zur Folge haben, A=A. Doch selbst die reinste Tautologie A=A differenziert zwischen zwei A’s, weil das zweite A vom ersten unterschieden wird. Das allein führt zur Notwendigkeit des dialektischen Denkens.

Erst mit dem logischen Satz ‚A muss zugleich B und Nicht-B sein’ ist formal ein Widerspruch dargestellt. Der Satz ist in sich selbst widersprüchlich. Wenn gilt, dass A zugleich B und auch Nicht-B, so unterstellt man die Identität und Nichtidentität von A und B. Alle As sind dabei ausnahmslos mit allen Bs identisch, sie sind aber auch mit allen Bs Nichtidentisch, weil B etwas anderes aussagt als A. Deswegen behauptet das Urteil die Identität von Identität und Nichtidentität. Dieses Urteil von Identität und Nichtidentität muss unter der Einheit oder Identität des Bewusstseins gedacht werden, dem mit sich identischem Subjekt. Anders wäre die Einheit des Bewusstseins zerstört. Alle Aussagen würden ansonsten zerbröseln und notwendig fremdelnde Willkürlichkeit bedeuten. Nichts wäre dann noch sicher und tatsächlich so und nicht anders. Alles sich Widersprechende, weil der Widerspruch dem nicht mehr mit sich identischen Subjekt unbewusst wird, wäre demnach zugleich möglich. Ein Stein kann dann ein Baum sein. Postmodern ausgedrückt hieße das: anything goes:„Das Bewußtsein von ihrer Identität in ihrem bestimmten Sein, von ihrem Selbst, als allgemein erscheinendes, haben sie verloren, sie schauen ohne Bewußtsein ihrer selbst als je Andere auf je Anderes, auf die in reicher Vielfalt zersplitterte Welt.“[23]

Wenn der so widersprüchliche Satz ‚A ist zugleich B und Nicht-B’ als weiterhin unter der Einheit des Bewusstseins, dem mit sich identischen Subjekt, stehend gedacht wird, muss das mit sich identische Subjekt den Widerspruch als einen denknotwendigen hinnehmen. Das mit sich identische Subjekt muss also widersprüchlich denken, um zu nichttautologischen, über A=A entsprechend hinausgehenden, Resultaten zu gelangen. Rationales Denken von Widersprüchen, das die subjektive Einheit des Bewusstseins nicht negiert und richtig und falsch dadurch in willkürliche Beliebigkeit auflöst, ist dialektisches denken. Es ist, weil dialektisches Denken nicht in Willkürlichkeit resultiert, ein rationalesDenken von Widersprüchen.

Auch dialektisches Denken löst den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch also nicht auf. Durch den von Aristoteles zuerst zugrunde gelegten Satz kann der entsprechende Gegenstand überhaupt erst genuin zu Ende reflektiert werden. Erst durch diesen können Denkwidersprüche als logische Fehler von Widersprüchen in der Sache selbst, als Paradoxien oder von notwendigen Denkwidersprüchen, die der Darstellung der Sache wegen eingegangen werden müssen, unterschieden werden. Aus notwendig dialektischen Widersprüchen im Urteil folgt insofern, dass bei isolierten Urteilen nicht stehen geblieben werden kann, sondern die Differenzierung in den Urteilen über die Gegenstände vorgenommen werden muss. Das verlangt eine systematische Vorgehensweise in der Wissenschaft, in der die Widersprüche als sachliche Widersprüchlichkeit des Gegenstands gedacht werden müssen. Weil das dialektische Denken ein rationales begreifen von Widersprüchen ist, treibt jedes genuine wissenschaftliche Durchdenken von Gegenständen notwendig und unabdinglich zur Dialektik. Die Dialektik ist darum die höchste Ausprägung der Logik, mit der Objektivität und Wahrheit nicht etwa als abgeschafft gelten, sondern als in unter der Einheit des Bewusstseins stehenden Widersprüchen vereint werden können. Das dialektische Denken vermittelt Momente in sich, wenn auch nicht absolut.

[1]Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie Band I, Frankfurt a.M. 1973, S. 55.

[2]Diese Tradition lässt sich in der Geschichte der Philosophie bereits anhand der nominalistischen Angriffe auf begriffsrealistische Strömungen verfolgen. Die Soziologie spaltet sich dann im 19. Jahrhundert von der Philosophie ab und verfolgt ihrerseits einen streng nominalistischen Ansatz. Comte und die Positivisten setzen nach der Spaltung die Maßstäbe in den Geisteswissenschaften und bekommen sogar über den akademischen Rahmen hinaus Einfluss. Die brasilianische Nationalflagge trägt das positivistische Motto schlechthin, ordem e progresso. Zur Mitte des 20. Jahrhunderts setzt sich der Nominalismus auch in dem Selbstverständnis nach kritischen Theorien durch. Foucault lässt bereits die Wahrheit im Diskurs zerfließen, Feyerabend, Lyotard und Butler spülen dann die Reste von Gesellschaftskritik und Objektivität aus den poststrukturalistischen Geisteswissenschaften.

[3]http://www.physics.nyu.edu/faculty/sokal/transgress_v2/transgress_v2_singlefile.html

[4]Ebd.

[5]Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1998, S. 139.

[6]Vgl. dazu Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, Frankfurt a.M. 2005, S. 9: „Durch die Geschichte der Philosophie von der Antike bis in die Gegenwart zieht sich ein Problem.“

[7]W.I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie, Peking 1973.

[8]Vgl. auch dazu Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, Frankfurt a.M. 2005, S. 130.

[9]Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1998, S. 27: „Positivisten fällt es nicht schwer, dem Marxischen Materialismus, der von objektiven Wesensgesetzen, keineswegs von unmittelbaren Daten oder Protokollsätzen ausgeht, Spekulation vorzurechnen. (…) Aber der sichere Boden ist dort ein Phantasma, wo der Wahrheitsanspruch erheischt, daß man darüber sich erhebt.“

[10]„The correspondence theory is often traced back to Aristotle’s well-known definition of truth.“ Marian David, The Correspondence Theory of Truth, http://plato.stanford.edu/entries/truth-correspondence/#1(Stanford Encyclopedia of Philosophy), (Zuletzt abgerufen 21.05.2017).

[11]Vgl. Hermann Diels, Parmenides. Lehrgedicht, Berlin 2003.

[12]Aristoteles, Metaphysik, 1005b, Würzburg 2003, S. 196.

[13]Thomas von Aquin, Summa Theologiae, http://www.corpusthomisticum.org/sth1015.html#29338

[14]Vgl. René Descartes, Meditationen, Hamburg 2009.

[15]Theodor W. Adorno, Meinung Wahn Gesellschaft, a.a.O., S. 576 f.

[16]„In Wirklichkeit steckt dahinter nicht weniger das Problem der Vermittlung, das heißt das Problem, daß wir ein Seiendes überhaupt nicht haben und nicht denken können, es sei denn als bestimmtes, und daß darin schon der Begriff – oder die Idee – enthalten ist; dagegen wäre die Idee, die nicht ihrerseits sich bezieht auf Seiendes, auf reale Erfahrung, wirklich bloß ein leerer Name, ein leeres Gespinst.“ Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie Band I, a.a.O., S. 54.

[17]Vgl. dazu Peter Bulthaup, Idealistische und materialistische Dialektik, Lüneburg 1998, S. 129 ff.

[18]Naturwissenschaften brauchen ihre Genesis nicht, Gesellschaftswissenschaften schon.

[19]Eine der wenigen Ausnahme bilden Adorno/Horkheimer bei ihrem Umgang mit Statistiken der empirischen Sozialforschung.

[20]Beispielhaft dafür sind Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1980.

[21]Vgl. u.a. Alfred Adler, Menschenkenntnis, Frankfurt a. M. 1972.

[22]Karl Marx, Das Kapital Bd. 3, MEW 25, Berlin 2003, S. 825.

[23]Robert Menasse, Phänomenologie der Entgeisterung, Frankfurt a.M. 1995, S. 78 f.